In dieser mehrteiligen Serie wollen wir euch die gewieftesten Trainer der Fußballgeschichte und deren taktische Entwicklungen vorstellen. Während andere Trainer vielleicht mehr Erfolge feiern... Taktische Revolutionen (2) – Bukovi, Sebes, Guttmann und das 4-2-4-System

In dieser mehrteiligen Serie wollen wir euch die gewieftesten Trainer der Fußballgeschichte und deren taktische Entwicklungen vorstellen. Während andere Trainer vielleicht mehr Erfolge feiern konnten, können diese von sich behaupten das Spiel mit ihren Ideen nachhaltig geprägt zu haben. Um zu verstehen, wie es zu den heute gängigen Systemen, wie dem  4-4-2 oder dem 4-2-3-1 kam, lohnt sich ein Blick in die Vergangenheit.

Englands Vormachtstellung ist gebrochen

Es war wohl der Höhepunkt dieser goldenen Fußballgeneration Ungarns. Mit 6:3 besiegten sie 1953 England – in deren Wohnzimmer, dem Wembley Stadion. Erstmals überhaupt konnte eine nichtbritische Mannschaft dort gewinnen. Dieser Erfolg war aber nicht nur ein einfacher Sieg, sondern ein Wendepunkt in der Fußballgeschichte. England, das Mutterland des Fußballs, das bis zu diesem Zeitpunkt als die weltweit beste Fußballnation galt, wurde von der ungarischen Nationalmannschaft unter Trainer Gusztav Sebes regelrecht vorgeführt. In der Stadt, in der Herbert Chapman gut zwanzig Jahre zuvor mit dem FC Arsenal das „W-M-System“ erfand, das sich innerhalb kurzer Zeit zur vorherrschenden Formation, nicht nur in England, sondern in fast ganz Europa entwickelte, wurden diesem System von der ungarischen Nationalmannschaft ihre Grenzen aufgezeigt.

Die Schwächen des „W-M-Systems“

Das Anfang der 1930er Jahre populär gewordene „W-M-System“ zeichnete sich durch eine klare Ordnung aus. Wegen der gleichen Anzahl an Defensiv- und Offensivspielern und deren symmetrischer Verteilung auf dem Spielfeld, hatte jeder Akteur einen direkten Gegenspieler. So deckte beispielsweise der zentrale Verteidiger, der Stopper, den gegnerischen Mittelstürmer und die beiden Außenverteidiger die zwei gegnerischen Flügelstürmer. Als Chapman dieses System erfand, funktionierte die Umsetzung beinahe perfekt, da die Raumaufteilung im „W-M-System“ der Raumaufteilung im davor gängigen 2-3-5-System überlegen war, weil nun eine größere Ausgewogenheit zwischen Defensive und Offensive bestand.

Nachdem in den folgenden Jahren aber beinahe alle Mannschaften das „W-M-System“ adaptierten, nivellierte sich dieser Vorteil. Da nun wieder fast alle Teams dasselbe System praktizierten, bedurfte es abermals einer taktischen Innovation, einer Meisterleistung eines Trainers, um sich einen taktischen Vorteil verschaffen zu können.Die Erkenntnis, wie das „W-M-System“ zu knacken sei, kam in diesem Fall einer Gruppe ungarischer Trainer, namentlich Marton Bukovi, Gusztav Sebes und Bela Guttmann. Während die ersten beiden das neue, flexiblere System entwickelten, war letzterer für die Verbreitung dessen verantwortlich. Vor allem nach Portugal und Südamerika, wo das neue System weiter verfeinert wurde, Brasilien beispielsweise den Weltmeisterschaftstitel und Benfica Lissabon zwei Triumpfe im Europapokal der Landesmeister bescherte.

Ein Freigeist hinter den Stürmern und zwei neue Angreifer

Als Marton Bukovi 1947 MTK Budapest übernahm, spielte Nandor Hidegkuti schon seit zwei Jahre bei dem Verein. Dieser Nandor Hidegkuti sollte Jahre später der entscheidende Spieler in den taktischen Überlegungen seines Trainers werden. Nachdem Bukovi 1948, ein Jahr nach Amtsübernahme, seinen Mittelstürmer Norbert Höfling verkaufen musste, suchte er in seinem Kader nach einem Ersatz für diese eminent wichtige Position des „W-M-Systems“. Ohne einen durchschlagskräftigen Stürmer würde die Offensive sonst große Teile ihrer Gefahr verlieren. Da sich in seinem Aufgebot aber schlicht und einfach kein passender Ersatz finden ließ, beschloss Bukovi stattdessen die Position ganz zu streichen. Anstelle eines Mittelstürmers bot er fortan einen zusätzlichen Mittelfeldmann auf. Um die Offensivabteilung aber nicht verkleinern zu müssen, verschob Bukovi kurzerhand die zwei verbliebenen Angreifer in die Sturmmitte und die beiden offensiven Mittelfeldspieler auf die Flügel.

Den Posten als hängende Spitze, als Ballverteiler hinter den Spitzen, übernahm bei MTK Budapest zunächst Peter Palotas –Hidegkuti, der geniale Spieler, der diese Position später berühmt machen sollte, spielte zu der Zeit noch auf dem Flügel. Palotas konnte bei MTK nun, Ende der 1940er Jahre, den Freigeist hinter der Sturmreihe geben, da die weiterhin im „W-M-System“ spielenden Gegner erhebliche Probleme mit der Deckung hatten. Der gegnerische Stopper hatte plötzlich keinen direkten Gegenspieler mehr. Genau hier lag die Meisterleistung von Bukovi. Er erkannte, dass die Spieler im unflexiblen „W-M-System“ so sehr auf ihren direkten Gegenspieler und die Manndeckung im Allgemeinenfokussiert waren, dass die gegnerischen Defensivspieler mit nur wenigen Verschiebungen im eigenen Offensivbereich komplett verwirrt werden konnten. Mit dieser Vierersturmreihe und einer hängenden Spitze, die als Regisseur agierte, dahinter wurden fast alle Deckungsschemen aufgebrochen. So spielte der nominelle Gegenspieler des Stoppers plötzlich im Mittelfeld, während sich die absolute Anzahl an Stürmern trotzdem von drei auf vier vergrößerte.

Dieses neue System brachte Trainer Marton Bukovi und seinem Verein MTK Budapest, der mittlerweile in Vörös Lobogo SE umbenannt worden war, nicht nur viel Lob für ihre attraktive Spielweise, sondern in den Jahren 1951 und 1953 auch jeweils die ungarische Meisterschaft.

Nationaltrainer Sebes adaptiert das neue System

Auch der ungarische Nationaltrainer Gusztav Sebes, seit 1949 im Amt, beobachtete diese Entwicklungen aufmerksam. Um die neue Formation auch in der Nationalelf einzuführen, bestellte er kurzerhand Bukovi zu seinem Co-Trainer. Die Nationalelf, jedenfalls, marschierte ab diesem Zeitpunkt Anfang der 1950er Jahre mit der neuen Formation von Erfolg zu Erfolg und blieb zwischen Mai 1950 und Juli 1954 unbesiegt.

Nachdem sich Ungarn 1952 im Finale gegen Jugoslawien zum Olympiasieger kürte, war das nächste Ziel der Weltmeisterschaftstitel. Bis dahin waren aber noch zwei Jahre Zeit um das neue System zu verfeinern.Während sich die taktischen Überlegungen von Marton Bukovi hauptsächlich um die Neuformierung des Offensivspiels drehten, legte Nationaltrainer Sebes großen Wert darauf auch das Defensivspiel zu perfektionieren.

Der vierte Verteidiger und der mitspielende Torwart

Die Versetzung des zentralen Stürmers ins Mittelfeld und die darauf folgende Verschiebung der beiden vormaligen offensiven Mittelfeldspieler auf die Flügel hatte nämlich noch zusätzliche, weitreichende Folgen. Da durch diese Positionswechsel eigentlich nur mehr ein Spieler vorhanden war, der die vier Stürmer mit Pässen bedienen konnte, musste einer der beiden defensiven Mittelfeldspieler etwas nach vorne gerückt werden. Der andere wurde folgerichtig noch weiter nach hinten beordert, bis er schließlich zu einem vierten Verteidiger umfunktioniert worden war. Die 4-2-4-Formation war geboren. Eine weitere Besonderheit dieses Systems war, dass erstmals auch die Außenverteidiger in das Offensivspiel mit eingebunden wurden. Mit Flankenläufen sollten sie Löcher in die gegnerische Defensive reißen. Das war möglich, da in der Mitte mindestens zwei weitere Verteidiger zur Absicherung vorhanden waren.

Da die ungarische Nationalelf fortan eigentlich mit sechs Offensivspielern agierte und das ganze System auf den Angriff ausgelegt war, rückte Nationaltrainer Sebes auch die Abwehrreihe sehr weit nach vorne. Deshalb entstanden zwischen eben jener Abwehrreihe und dem Torwart, in der Nationalelf zu dieser Zeit Gyula Grosics, große Räume, die von der gegnerischen Mannschaft mit Pässen in die Tiefe genutzt werden konnten. Um diese Gefahr schon im Keim zu ersticken, funktionierte Sebes seinen Torwart zu einer Art letzten Ausputzer um. Nicht selten glänzte er mit Klärungsmanövern außerhalb des Strafraums. Damit war Grosics der erste wirklich mitspielende Torwart der Fußballgeschichte.

Triumpf in Wembley, Desaster in Bern

Mit diesem neuen System eroberte die ungarische Nationalelf die Fußballwelt im Sturm. Bis zur Weltmeisterschaft 1954 in der Schweiz blieb sie 32 Spiele lang ungeschlagen. Darunter der berühmte 6:3-Sieg 1953 gegen England im Wembley Stadion. Berühmt wurde dieser Sieg aber nicht nur wegen der Tatsache, dass England erstmals in der Geschichte von einer nichtbritischen Mannschaft auf eigenem Boden besiegt wurde, sondern auch wegen der taktischen Meisterleistung der Ungarn. So stellte der englische Stopper Harry Johnston nach dem Spiel verwundert fest, dass er keinen Gegenspieler zum Decken hatte. Nandor Hidegkuti, der Mann der im Nationalteam die hängende Spitze gabund in diesem Spiel Johnstons nomineller Gegenspieler war, zog sich einfach in den freien Raum zwischen Abwehr und Mittelfeld zurück. Johnston konnte sich nicht entscheiden ob er Hidegkuti ins Mittelfeld folgen, oder seinen Posten im Abwehrzentrum halten sollte. Hidegkuti, jedenfalls, erzielte an jenem Abend drei Tore.

Während jener Hidegkuti zweifellos der Stratege der Mannschaft war, spielten die großen Stars in der Sturmreihe. Ferenc Puskas, Laszlo Budai, Sandor Kocsis und Zoltan Czibor – alles Namen, die für bedingungslosen Offensivfußball stehen. Aber auch für das Versagen im entscheidenden Moment. Bei der Weltmeisterschaft 1954 sollte die Krönung dieser goldenen Mannschaft folgen. Doch daraus wurde nichts. Im Finale bezwang Deutschland Ungarn mit 3:2 und beendete nicht nur die vier Jahre andauernde Erfolgsserie der Ungarn, sondern leitete auch das Ende dieser großartigen Elf ein.

Guttmann trägt das System in die Welt

Ungarn scheiterte mit dem neuen System also kurz vor dem Ziel – anderen Mannschaften bescherte es aber große Erfolge. Nachdem der ungarische Trainer Bela Guttmann Mitte der 1950er Jahre den FC Sao Paulo übernahm, führte er sofort das in seinem Heimatland bereits bewährte 4-2-4-System als Grundformation ein. 1957 feierte er die Staatsmeisterschaft von Sao Paulo. Von den Erfolgen begeistert zeigte sich jedenfalls der brasilianische Nationaltrainer Vicente Feola. Dieser installierte das 4-2-4-System in der Nationalelf und gewann 1958 in Schweden den Weltmeisterschaftstitel – ein zweiter Titel sollte für Brasilien vier Jahre später folgen. Auch bei seiner nächsten Trainerstation, bei Benfica Lissabon, wandte Guttmann das System an – und feierte 1961 und 1962 jeweils den Gewinn des Europapokals der Landesmeister.

Nino Duit, abseits.at

Nino Duit

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