In dieser mehrteiligen Serie wollen wir euch die gewieftesten Trainer der Fußballgeschichte und deren taktische Entwicklungen vorstellen. Während andere Trainer vielleicht mehr Erfolge feiern... Taktische Revolutionen (4) – Michels und der Voetbal Totaal

In dieser mehrteiligen Serie wollen wir euch die gewieftesten Trainer der Fußballgeschichte und deren taktische Entwicklungen vorstellen. Während andere Trainer vielleicht mehr Erfolge feiern konnten, können diese von sich behaupten das Spiel mit ihren Ideen nachhaltig geprägt zu haben. Um zu verstehen, wie es zu den heute gängigen Systemen, wie dem  4-4-2 oder dem 4-2-3-1 kam, lohnt sich ein Blick in die Vergangenheit.

Im zweiten Anlauf

Um 1970 kam es zu einem wahren Kampf zwischen zwei Spielkulturen, zwischen der Hochburg des Catenaccio, Mailand, und der aufstrebenden Fußballstadt Amsterdam, dem Geburtsort des Voetbal Totaal. 1969 schaffte es Ajax Amsterdam mit seinem neuen Offensivsystem erstmals in ein europäisches Finale, um dort gegen den von Nereo Rocco trainierten AC Mailand zu verlieren. In den folgenden Jahren wurde das System, der Voetbal Totaal, von Ajax-Trainer Rinus Michels immer weiter perfektioniert, bis es 1971 zum ersten Gewinn des Europapokals der Landesmeister reichte. In der folgenden Saison stand Ajax Amsterdam abermals im Finale. Der Gegner dort war der Verein, bei dem Helenio Herrera gut zehn Jahre zuvor den Catenaccio eingeführt hat: Inter Mailand. Ajax gewann verdient mit 2:0. Dieser Sieg bedeutete nicht nur den zweiten Titel in Folge für Ajax Amsterdam, sondern auch den Sieg des Offensivfußballs über den Defensivfußball. Im letzten Kapitel des Duells zwischen Amsterdam und Mailand bezwang Ajax den AC schließlich im UEFA Super Cup 1974 nach Hin- und Rückspiel mit einem Gesamtergebnis von 6:1. Spätestens jetzt war klar, wo die neue Fußballhauptstadt Europas liegt.

Der englische Einfluss

Als Rinus Michels 1965 als Trainer bei Ajax Amsterdam anheuerte, war der niederländische Fußball international gesehen völlig bedeutungslos. Weder die Nationalmannschaft, die sich seit dem zweiten Weltkrieg für kein einziges großes Turnier mehr qualifizieren konnte, noch die Vereine, die in den europäischen Wettbewerben selten länger als bis zu den ersten Runden vertreten waren, verzeichneten bisher nennenswerte Erfolge. Auch Michels selbst konnte als Spieler keine wirklich großen Triumphe feiern. Zwei Meisterschaften mit Ajax und fünf Länderspiele standen für den ehemaligen Stürmer am Ende seiner Karriere zu Buche. Viel erfolgreicher verlief hingegen seine Trainerkarriere – die eigentlich schon zum Ende seiner aktiven Laufbahn begann. Schon damals war er an den taktischen Überlegungen und der Trainingsführung seiner damaligen Trainer sehr interessiert. Schon bald nach seinem Karriereende als Aktiver begann Michels Sportwissenschaften zu studieren. Außerdem erwarb er beim ersten Trainerausbildungskurs des niederländischen Verbandes die Trainerlizenz – zu diesem Zeitpunkt für einen Coach keine Selbstverständlichkeit.

Ajax Amsterdam war zu der Zeit, als Michels als Trainer anheuerte, sehr stark vom englischen Fußball geprägt. Zwischen 1942 und 1965, dem Jahr in dem Michels die Mannschaft übernahm, kamen sieben der insgesamt neun verschiedenen Ajax-Trainer von der Insel. Diese hatten natürlich auch einen enormen Einfluss auf  Michels, der während dieser Zeit bei Ajax als Spieler unter Vertrag stand. Besonders für die Methoden von Jack Reynolds, einer dieser englischen Trainer, konnte sich Michels begeistern. Die disziplinäre Menschenführung schaute er sich genauso von Reynolds ab, wie dessen Ansicht, dass Spieler in Trainingseinheiten so viel wie nur irgendwie möglich mit dem Ball arbeiten sollten, um ihre Technik zu perfektionieren. Für seine späteren taktischen Überlegungen war eine perfekte Technik der Spieler nämlich unabdingbar. Im taktischen Bereich lag Michels aber nicht auf einer Linie mit seinen Vorgängern. Sofort nach seiner Amtsübernahme, schaffte er das vorher gängige, typisch englische„W-M-System“ bei Ajax ab. Diese Formation war nach Michels Ansicht viel zu defensiv und unflexibel. Stattdessen ließ er seine Elf fortan in einer 4-2-4-Formation auflaufen. Mit dem Spielsystem also, mit dem die Ungarn und später auch die Brasilianer in den 1950er Jahren die Fußballwelt verzauberten. Gewissermaßen sollte sein Ajax der legitime Nachfolger dieser Mannschaften werden.

Erste Erfolge

Der Weg dorthin, zur legitimen Nachfolge der großartigen ungarischen Elf der 1950er Jahre, war natürlich ein weiter. Um seine Vorstellungen von einem offensiven, attraktiven Spiel umsetzen zu können, benötigte Michels natürlich auch das passende Spielermaterial. Das war, dank der bereits vorhandenen und von Jack Reynolds eingeführten durchgängigen Nachwuchsphilosophie, bereits vorhanden. Beinahe zeitgleich mit der Amtsübernahme von Michels, debütierten die Jungstars Johan Cruyff, Piet Keizer oder Sjaak Swart, die neben dem Trainer als Hauptverantwortliche für die späteren Erfolge dieser Mannschaft gelten. All diese blutjungen Spieler beorderte Michels direkt nach seiner Amtsübernahme in seine Startelf, die jetzt im 4-2-4-Sytem agierte.

Diese Wechsel, sowohl im Personal als auch in der Taktik, zeigten schon bald Wirkung, Ajax konnte erste Erfolge feiern. Neben drei Meisterschaften in Folge zwischen 1966 und 1968, machte die Elf auch erstmals auf internationaler Bühne auf sich aufmerksam. Mit einem 5:1-Sieg und teilweise begeisterndem Fußball gegen den englischen Meister FC Liverpool in der zweiten Runde des Europapokals der Landesmeister, sorgte Ajax Amsterdam 1966 in ganz Fußballeuropa für Aufsehen. Doch diese Erfolge waren erst der Anfang. Die ganz großen Triumphe sollten erst später folgen. Diese gelangen dann nicht mehr im 4-2-4-System, sondern im 4-3-3-System, oder auch: Voetbal Totaal.

Taktische Modifizierungen

Schon bald nach diesen ersten Erfolgen begann Michels sich Gedanken über seine Formation zu machen. Allein schon um auf dem Feld eine größere Ausgewogenheit zwischen den einzelnen Mannschaftsteilen zu schaffen, beorderte er einen seiner vier Stürmer zurück ins Mittelfeld, in dem jetzt drei statt nur zwei Spielern agierten. Außerdem modifizierte Michels auch seine Abwehrreihe. Bereits 1966 verpflichtete er Velibor Vasovic. Ein Transfer, der Auswirkungen auf das System haben wird. Der Serbe bekleidete in den folgenden Jahren bei Ajax nämlich die Position des Liberos. Anders als im Catenaccio, agierte der Libero unter Michels aber keineswegs ausschließlich hinter der Abwehrreihe. Vasovic hatte beinahe alle Freiheiten, durfte bei Gelegenheit auch bis ins Mittelfeld aufrücken. So entstand um 1970 die Formation, mit der Ajax große Erfolge feiern sollte. Eine Mischform zwischen 4-3-3 und 3-4-3.

Während sich dieses neue System bei Ajax zu etablieren begann, rüstete Michels seinen Kader auf – mit Spielern aus der eigenen Jugend. Talentierte und entwicklungsfähige Spieler, die über ein großes taktisches Verständnis verfügten, wurden von Michels in die erste Elf beordert. Unter ihnen beispielsweise Ruud Krol oder Arie Haan.

Die Entwicklung des Voetbal Totaal

Nachdem Michels mit der Mischform zwischen 4-3-3 und 3-4-3 eine neue Grundformation gefunden hatte, stellte er, gemeinsam mit seinen Führungsspielern Johan Cruyff und auch Velibor Vasovic, Überlegungen über die allgemeine Spielweise seines Teams an. Als Verfechter des Offensivfußballs, wollte Michels seine Elf natürlich einen attraktiven Fußball spielen lassen, bei dem die eigene Elf mit viel Ballbesitz das Spiel macht und der Gegner schon früh, weit in der eigenen Spielhälfte, attackiert wird. Er wollte seine Elf also in einer sehr kräfteraubenden, weil laufintensiven Spielweise agieren lassen – und das am besten über 90 Minuten. Mit den damals sehr positionsbezogenen und unflexiblen Spielsystemen natürlich nicht möglich. Deshalb beschloss Michels die festen Positionen der einzelnen Spieler einfach abzuschaffen. Fortan sollten alle Spieler gemeinsam angreifen und gemeinsam verteidigen.

Natürlich gab es weiterhin elf Posten die auf dem Spielfeld bekleidet werden mussten. Der Unterschied zu den vorherigen Systemen war nur, dass jeder diese Posten nicht mehr das ganze Spiel über von ein und derselben Person bekleidet wurde. Genau darin lag das Grundprinzip des Voetbal Totaal. Michels Idealvorstellung war, dass jeder seiner Spieler im Prinzip jede einzelne Position seines Systems spielen konnte. Natürlich hatten die Spieler weiterhin angestammte Posten, auf die sie bei Spielunterbrechungen auch zurückkehrten, trotzdem kam es häufig vor, dass beispielsweise der Rechtsaußen für mehrere Minuten die Position des Rechtsverteidigers einnahm.  Die Idee dahinter war, dass jeder Spieler bei Ballverlust einfach die Position übernahm, die örtlich gesehen am nächsten lag. Ein Beispiel: Der Rechtsverteidiger versucht mit einem Flankenlauf über den Flügel die gegnerische Verteidigungsreihe aufzureißen. Um ihn abzusichern, lässt sich der Rechtsaußen auf die Position des rechten Mittelfeldspielers zurückfallen und dieser auf die Position des Rechtsverteidigers, der sich jetzt im Angriff befindet. Sollte der stürmende Rechtsverteidiger den Ball verlieren, behalten alle Spieler ihre neuen Positionen, anstatt unnötige Kilometer zurückzulegen, um an ihre angestammten Posten zurückzukehren. Um dieses System spielen zu können, ist es natürlich nötig, dass sich die Spieler untereinander beinahe blind verstehen und ein hohes taktisches Verständnis mitbringen. Ein angenehmer Nebeneffekt dieser Spielweise war es, dass die gegnerischen Verteidiger durch diese ständigen Positionswechsel vollkommen verwirrt werden konnten, da sie es alle paar Minuten mit einem neuen Gegenspieler zu tun hatten, auf den sie sich erst einstellen mussten.

Eine weitere Errungenschaft des Voetbal Totaal war das Pressing. Wieder eine von Michels (und zeitgleich von Ernst Happel, Trainer von Feyenoord Rotterdam) entwickelte Methode, die dazu diente, die Distanzen auf dem Feld zu verkürzen. Da Ajax bei eigenen Angriffen extrem weit aufrückte, erachtete es Michels als unnötig und kräfteraubend, dass sich seine Elf bei Ballverlust zurückzieht. Stattdessen begannen seine Spieler die Gegner weit in deren Hälfte zu attackieren, damit diese gar nicht erst die Möglichkeit bekamen ein geregeltes Aufbauspiel zu betreiben. Das Pressing, wie es bis heute angewendet wird, war geboren.

Erfolge mit dem Klub, Tragödie mit der Nationalelf

Mit diesem neuen System gelang es Ajax Amsterdam den Europapokal der Landesmeister zwischen 1971 und 1973 dreimal in Folge zu gewinnen. Michels selbst, der Architekt dieser Elf und Erfinder des Voetbal Totaal, saß aber selbst nur beim ersten Triumpf auf der Trainerbank. Danach wechselte er zum FC Barcelona. Doch schon bald kehrte er zurück in die Niederlande. Bei der Weltmeisterschaft 1974, der ersten mit niederländischer Beteiligung seit dem ersten Weltkrieg, betreute er das Nationalteam. Das Team, bestehend aus den besten Spielern von Ajax Amsterdam und Feyenoord Rotterdam, dem zweiten großen niederländischen Verein dieser Zeit, ließ Michels mit seinem Voetbal Totaal spielen. Mit begeisternden Auftritten spielte sich die niederländische Nationalelf bis ins Finale – um dort, genau wie die ungarische Nationalelf 20 Jahre zuvor gegen Deutschland zu verlieren. Michels baute also eine Mannschaft, die nicht nur wegen ihrer attraktiven, offensiven Spielweise zum legitimen Nachfolger der Ungarn der 1950er Jahre wurde, sondern auch in der Tatsache, dass die kurz vor dem Ziel tragisch scheiterte.

Nino Duit, abseits.at

Nino Duit

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