Taktische Revolutionen (5) – Sacchi und das 4-4-2-System
Taktik & Theorie 30.Dezember.2012 Nino Duit 0
In dieser mehrteiligen Serie wollen wir euch die gewieftesten Trainer der Fußballgeschichte und deren taktische Entwicklungen vorstellen. Während andere Trainer vielleicht mehr Erfolge feiern konnten, können diese von sich behaupten das Spiel mit ihren Ideen nachhaltig geprägt zu haben. Um zu verstehen, wie es zu den heute gängigen Systemen, wie dem 4-4-2 oder dem 4-2-3-1 kam, lohnt sich ein Blick in die Vergangenheit.
Die Wiedergeburt des AC Mailand
Was es für gewaltige Veränderungen zwischen den 1960er und 1980er Jahren in Sachen Taktik gab, lässt sich wohl am besten am Beispiel des AC Mailand festhalten. Der Verein, der, genauso wie sein Stadtrivale Inter Mailand, in den 1960er Jahren mit dem berüchtigten Catenaccio samt Libero einen Titel nach dem anderen abräumte, konnte nach einer zwanzigjährigen Durststrecke Ende der 1980er Jahren wieder Erfolge feiern – mit einer komplett neuen taktischen Ausrichtung. Nachdem dem Catenaccio der Mailänder Vereine auf europäischer Ebene Anfang der 1970er Jahren bald der Rang vom Voetbal Totaal der Niederländer, insbesondere von Ajax Amsterdam, abgelaufen wurde, stürzten die italienischen Vereine, die diese Defensivtaktik zuvor beinahe zur Perfektion gebracht hatten, in eine große Krise. Der AC Mailand konnte in den zwanzig Jahren bis zum Meistertitel 1988 beispielsweise nur eine einzige nationale Meisterschaft feiern. Während der prägende Spieler des AC in den 1960er Jahren der Libero Cesare Maldini war, hatte sein Sohn, Paolo Maldini, entscheidenden Anteil an den Erfolgen der späten 1980er Jahren – als Teil einer flachen Viererkette, die, auf einer Linie agierend, Raumdeckung praktizierte: zu dieser Zeit ein Novum. Hauptverantwortlich für diese taktische Neuausrichtung des AC war Trainer Arrigo Sacchi.
Durch die Fußballprovinz in die Millionenstadt
Arrigo Sacchi wurde in dem kleinen, von knapp 8.000 Menschen bewohnten Örtchen Fusignano geboren. Noch unbekannter als diese Stadt, nahe Ravenna gelegen, ist aber der örtliche Fußballklub, Baracco Luco. Die Fähigkeiten des Fußballers Arrigo Sacchi reichten aber nicht einmal aus, um dort mitspielen zu können. Um aber weiter mit dem Sport, den er so liebt, zu tun haben zu können, beschloss Sacchi im Alter von nur 26 Jahren Trainer zu werden. In seiner Freizeit coachte er fortan Baracco Luco. Bald begann sein steiler Aufstieg. Während ehemalige Topspieler oft ohne jegliche Trainererfahrung Posten in den oberen Ligen übernehmen können, arbeitete sich Sacchi selbst von ganz unten nach ganz oben. Etwa 15 Jahre nachdem er Baracco Luco in einer der untersten Amateurligen trainierte, gewann Sacchi mit dem AC Mailand den Europapokal der Landesmeister.
Nach seiner Trainerstation bei Baracco Luco und einer weiteren Anstellung bei einem kleinen Amateurverein, heuerte Sacchi schließlich beim AC Cesena an, der damals in der Serie B spielte – um dort eine Jugendmannschaft zu übernehmen. Anschließend trainierte Sacchi mit Rimini Calcio einen weiteren mehr oder minder kleinen Klub und eine Jugendmannschaft des AC Florenz, um im Jahr 1985 in der Serie C den FC Parma zu übernehmen. In den folgenden vier Jahren ereignete sich für Sacchi eine Erfolgsgeschichte, die ihresgleichen sucht und ihn in seiner Ansicht bestätigte, dass ein erfolgreicher Trainer kein erfolgreicher Spieler gewesen sein muss. Sein treffender Vergleich: „Ein guter Jockey muss ja früher auch kein Pferd gewesen sein.“
Beim FC Parma, seinem ersten Posten bei einem relativ ambitionierten Klub, konnte Sacchi erstmals eine Mannschaft betreuen, die in der Lage war seine komplexen taktischen Vorstellungen in die Tat umzusetzen. Bereits in seiner Premierensaison gelang Sacchi mit dem FC Parma der Aufstieg in die Serie B; in der nächsten Spielzeit schrammte das Team nur haarscharf an den Aufstiegsplätzen für die Serie A vorbei. Für den weiteren Karriereverlauf des Arrigo Sacchi war in dieser Saison aber ein anderer Wettbewerb viel entscheidender: die Coppa Italia. Im nationalen Pokal gelangen dem kleinen FC Parma in der Saison 1986/87 nämlich zwei Siege gegen den großen AC Mailand, einer in der Gruppenphase und einer in der K.O.-Phase. Für Silvio Berlusconi, den neuen Eigner des AC, Grund genug um den aufstrebenden Trainer zu verpflichten.
Inspiration in der Vergangenheit
Sacchis neuer Klub, der AC Mailand, hatte aber schwere Zeiten hinter sich. Der Verein, der noch in den 1960er Jahren zu einem der vorherrschenden Europas zählte, versank in den folgenden zwanzig Jahren nämlich mehr und mehr in der Versenkung. Nachdem der Erfolgstrainer Nereo Rocco den AC 1973 verließ, ging es steil bergab. Nach zwei Abstiegen und einer Verwicklung in einen großen Wettskandal, herrschte nun aber wieder Aufbruchsstimmung. Grund dafür war eine Reihe neuer Gesichter. Die Kombination aus einem erfolgshungrigen Trainer, Arrigo Sacchi, und einem potenten Geldgeber, Silvio Berlusconi, schien jedenfalls äußerst erfolgsversprechend.
Gleich in seinem ersten Jahr als Trainer beim AC Mailand konnte Sacchi den italienischen Meistertitel feiern. Grund dafür waren einige grundlegende Änderungen, sowohl in der taktischen Ausrichtung, als auch in der Trainingsführung. Als Verfechter einer offensiven und attraktiven Spieleweise, nahm sich Sacchi besonders zwei großartige Teams früherer Zeiten als Vorbild: die ungarische Nationalmannschaft der 1950er Jahren und die berühmte Ajax-Elf der frühen 1970er Jahre. Von beiden schaute er sich einige taktische Entwicklungen ab und verfeinerte sie weiter. So übernahm Sacchi von diesen beiden Mannschaften beispielsweise die sehr hoch stehende Defensivabteilung, verbunden mit einer äußerst aggressiven Abseitsfalle. Auch das bereits von den Niederländern praktizierte Pressing wandte Sacchi beim AC Mailand an. Aber in einer viel systematischeren und radikaleren Form als es in den 1970er Jahren von Ajax gespielt wurde und vor allem: ohne einem Libero.
Die flache Viererkette
Während bei Ajax stets ein Libero entweder hinter oder vor der Abwehrreihe agierte, installierte Sacchi beim AC Mailand erstmals auf hohem, europäischen Niveau eine flache Viererkette. Eine bahnbrechende Erfindung, die in den taktischen Überlegungen von Sacchi eine große Rolle spielte. Da das Spielfeld von der Abwehrkette in der Breite jetzt fast optimal besetzt war, konnte Sacchi die Manndeckung opfern und stattdessen eine Raumdeckung einführen. Was von der Ajax-Elf unter Rinus Michels bereits angedeutet wurde, war jetzt Realität. Die Verteidiger folgten fortan nicht mehr ihren direkten Gegenspielern quer über das Feld, sondern übergaben diesen einfach an den Verteidigerkollegen, der für die Deckung des entsprechenden Raumes verantwortlich war.
Damit dieses System in der Geschwindigkeit eines Wettkampfspieles auch einwandfrei funktionieren konnte, ließ Sacchi seine Elf in stundenlangen Trainingseinheiten das Verschieben perfekt einüben. Eine für ihn typische Übung sah in etwa so aus: Sacchis Spieler, die in einer 4-4-2-Formation agierten, mussten sich entsprechend diesem System auf einem Feld ohne Ball und Gegner aufstellen. Anschließend teilte Sacchi ihnen mit, wo sich ein imaginärer Ball befindet. Die Übung bestand dann darin, dass sich alle Spieler, die ganze Elf, dementsprechend verschieben, dass der Raum um den imaginären Ball und alle imaginären Gegenspieler perfekt gedeckt sind. Dadurch lernten die Spieler, wie sie, unter Beachtung der vier grundlegenden Referenzpunkte auf dem Feld, dem Ball, den Gegenspielern, den Mitspielern und den freien Räumen, die Raumdeckung aufziehen können. In einem richtigen Match beherrschte seine Mannschaft das Stellungsspiel perfekt, da sie durch die detaillierte Trainingsarbeit genaue Vorstellungen von Sacchis Forderungen hatte.
Veränderungen im Offensivbereich
Auch in Sachen Umschalt- und Angriffsspiel ließ sich Sacchi von der Ajax-Elf der 1970er Jahre inspirieren; so begann die Offensive bei ihm, wie auch bei Rinus Michels, eigentlich bei gegnerischem Ballbesitz. Mit einem aggressiven Pressing wurde die gegnerische Mannschaft schon beim Spielaufbau entscheidend gestört. Entscheidend war hierbei, dass sich wirklich alle Spieler am Pressing beteiligten, denn sonst würden große Lücken zwischen den Spielern oder Mannschaftsteilen entstehen. Sacchis Elf zog sich bei gegnerischem Ballbesitz zu einem engen Block, bestehend aus zwei Viererketten und zwei Stürmern, zusammen, der sich synchron zum Ball von einer Seite auf die andere und von vorne nach hinten verschob. Seine Maxime lautete, dass der vorderste und der hinterste Spieler nicht mehr als 25 Meter voneinander entfernt stehen sollten, wobei die Abwehrreihe sehr hoch stand und eine aggressive Abseitsfalle praktizierte. Ziel war es nicht dem Gegner den Ball wegzuschlagen, sondern diesen zu erobern und zu kontrollieren. War der Ball dann einmal erobert, fächerte sich Sacchis Elf wie eine Ziehharmonika auseinander. Im Optimalfall sollten sich mindestens fünf Spieler vor dem Ball befinden und beide Flügel besetzt sein.
Neben diesem von Sacchi ausgetüftelten Spielsystem, verfügte der AC Mailand während seiner Tätigkeit aber auch über Einzelspieler, die fähig waren seine Vorstellungen auf dem Feld umzusetzen. Neben Franco Baresi, der die anspruchsvolle Aufgabe innehatte, die flache Viererkette zu organisieren, stach besonders das niederländische Trio mit Marco van Basten, Ruud Gullit und Frank Rijkaard heraus.
Geschichte wiederholt sich
In seiner vierjährigen Tätigkeit beim AC Mailand sorgte Sacchi nicht nur für eine Revolution in Sachen Taktik sondern auch für große sportliche Erfolge – allesamt mit begeisterndem Angriffsfußball, ganz nach seinen Vorstellungen, errungen. Neben einem Meistertitel, konnte Sacchi 1989 und 1990 jeweils den Europapokal der Landesmeister und den Weltpokal erringen und den AC damit zurück in die europäische Spitze führen.
Im Jahr 1991 verließ Sacchi den AC Mailand und übernahm die italienische Nationalmannschaft, die er bei der Weltmeisterschaft 1994 bis ins Finale führen sollte – um dort gegen Brasilien im Elfmeterschießen zu verlieren. Genau wie die ungarische Nationalelf unter Gusztav Sebes vierzig Jahre zuvor und die niederländische Nationalelf unter Rinus Michels zwanzig Jahre zuvor, scheiterte jetzt auch die italienische unter Arrigo Sacchi kurz vor dem Ziel. Drei Trainern, die mit ihren taktischen Ideen die Fußballwelt nachhaltig prägten, blieb der ganz große Triumph also verwehrt. Ähnlich wie das 4-2-4-System von Sebes und das 4-3-3-System von Michels, sollte aber auch das 4-4-2-System von Sacchi von anderen Mannschaften adaptiert werden und diese zu großen Erfolgen führen.
Nino Duit, abseits.at
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