Also sprach der Zahnarzt ohne Husten: „Auf nach Paris, die andern wegpusten.“ Höchstwahrscheinlich ist es nicht so passiert, sicher ist nur, dass ein Dentist... Die WM 1930 in Uruguay: Die Geburtsstunde des Turniers

Uruguay - Flagge, schwarzweißAlso sprach der Zahnarzt ohne Husten: „Auf nach Paris, die andern wegpusten.“ Höchstwahrscheinlich ist es nicht so passiert, sicher ist nur, dass ein Dentist indirekt dafür verantwortlich ist, dass es die Fußballweltmeisterschaft heute gibt. Ein reicher „Pappenschlosser“ aus Montevideo kam 1924 nämlich auf die Idee, die Nationalmannschaft Uruguays zu sponsern, damit diese die Überfahrt zu den Olympischen Sommerspielen in Frankreich antreten konnte und so als erste südamerikanische Mannschaft am Gekicke unter den fünf färbigen Ringen teilnehmen durfte. Der beliebte Ballsport war zwar schon seit 1908 eine olympische Disziplin, doch von weltumspannender Beteiligung am Turnier konnte zunächst keine Rede sein. Die Spiele, die mit Ausnahme von St. Louis immer in Europa stattfanden, lockten nur abendländische Mannschaften an, der Rest schaffte es nicht die finanziellen Strapazen zu stemmen und anzureisen.

Heute ist es kaum zu glauben, aber in den 1920er-Jahren war Österreich tatsächlich eine aufstrebende Fußballgroßmacht. Neben England, Ungarn und Dänemark brillierten auch die „Alpenkicker“ am Feld. Die angereisten „Urus“ wurden 1924 zunächst verhöhnt, das Lachen sollte den Gegnern aber bald im Halse stecken bleiben. 3:0 „putzten“ die Südamerikaner die Schweizer im Finale weg und waren Olympiasieger. Zuvor hatten sie ihre vier Partien allesamt gewonnen und Jugoslawien, die USA, Frankreich und Holland beeindruckend niedergerungen. 1928 später war mit Argentinien eine zweite, starke südamerikanische Mannschaft am olympischen Fußballturnier beteiligt: Die „Gauchos“ mussten sich erst im Endspiel geschlagen geben, Olympiasieger wurde – diesmal ohne Überraschungseffekt- wieder Uruguay. Nun wusste auch der letzte Skeptiker, dass sich in Südamerika eine ansehnliche Spielkultur gebildet hatte, die der europäischen weit überlegen war: Die Spieler waren technisch beschlagener, flinker und auch taktisch besser geschult. Außerdem wurde in Lateinamerika „bezahlt“ gekickt, während europäische Spieler großteils nur „für die Ehre“ aufliefen.

Wir sehen uns in Montevideo

Jules Rimet, ein weitsichtiger Fußballfunktionär aus Frankreich, wurde 1921 FIFA-Präsident. Doch der Weltfußballverband verdiente seinen Namen zu dieser Zeit kaum, er zählte nach dem ersten Weltkrieg gerade zwölf Mitglieder. Rimet träumte von einem internationalen Turnier und sah in den vorangegangen olympischen Sommerspielen ein Vorbild für eine zukünftige Weltmeisterschaft. Er und Henri Delaunay, der Sekretär des französischen Fußballverbands, schlugen anlässlich des FIFA-Kongresses in Amsterdam die Austragung eines globalen Wettkampfes vor. Der Vorschlag wurde angenommen und ein Veranstalter gesucht. Schließlich bekam der Doppelolympiasieger Uruguay die Turniergestaltung aufgetragen, der in Enrique Buero, einem Rinderzüchter aus Montevideo, über einen zahlungskräftigen Sponsor verfügte. Neben einem Zahnarzt, dem studierten Juristen Rimet ist der dritte Gründervater der Fußball-WM also ein „Bauer als Millionär“.

Zahlungsunterstützung der FIFA für ein internationales Turnier war nach dem Börsencrash 1929 unmöglich geworden. Nach und nach sprangen übrige Bewerber für den Austragungsort ab und Uruguay stand „ohne Kampf“ als Gewinner der Ausschreibung fest. Buero übernahm Kost und Logis der Teilnehmer und auch Rimet griff in die eigene Tasche.

In Montevideo selbst sollten alle Spiele ausgetragen werden. Das neugebaute Estadio Centenariokonnte aber erst am fünften Turniertag „bespielt“ werden, die Nordtribüne war zum Zeitpunkt des Anpfiffes noch in Bau. Eine Parallele zu Brasilien 2014? Hoffentlich nicht! 100.000 Zuschauer konnten im Zentralstadion Platz nehmen, das gleich drei Besonderheiten aufwies: Es wurde als reines Fußballstadion ohne Laufbahn konzipiert, nicht oval, sondern eher rund gestaltet und war zu diesem Zeitpunkt das größte Stadion Südamerikas. Zwei Vorrundenspiele wurden zudem im Estadio Pocitos ausgetragen, sechs Matches spielte man im Estadio Gran Parque Central.

Teilnehmen durfte beinahe jedes Team, das elf Spieler mit zwei funktionierenden Beinen, bereitstellen konnte. Nachdem die FIFA sowieso nur aus wenigen Mitgliedern bestand, ging deren Chef Rimet auf Werbetour, um Nationen anzuwerben. England war kein Mitglied im Weltfußballverband und auch der DFB hatte sich mit der internationalen Organisation überworfen: Die Deutschen wollten aus dem Fußballsport keinen Profi-Wettkampf machen. Schließlich fanden sich dreizehn Teilnehmer, die den Weg nach Uruguay antraten. Ohne Qualifikation.

Mit dem „Conte Verde“ zur WM

Wer leicht seekrank wurde, konnte sowieso gleich zuhause bleiben. 1930 segelten drei europäische Teilnehmer (Frankreich, Rumänien und Belgien) inklusive dreier Schiedsrichter, dem FIFA-Präsident Rimet und dem Pokal an Bord des „Grünen Graf“ über den großen Teich nach Südamerika. In Rio de Janeiro kam auch noch die brasilianische Mannschaft an Bord, Jugoslawien reiste auf der MS Florida an. Aufgrund der geringen Teilnehmeranzahl wurden die nach Vergleichsergebnissen spielstärksten Teams (Argentinien, Brasilien und Uruguay) aufgeteilt, Paraguay und die USA wurden in die vierte Gruppe gesteckt. Das Los entschied letztendlich welche europäische Mannschaft jeweils in einen Topf mit einem Pan-Amerika-Team kam. Die Veranstalter bliesen die geplante K.O.-Runde ab und entschlossen sich zu einer Mischung aus Gruppen- und Ausscheidungsspielen.

Am 13. Juli bestritten Frankreich und Mexiko im Schneegestöber (!) vor 4.444 Zuschauern im 1940 abgerissenen Estadio Pocitos das erste WM-Spiel der Geschichte. Lucien Laurent, ein gelernter Automechaniker, sorgte für den ersten Treffer der Weltmeisterschaft. Der 2005 Verstorbene meinte dazu später: „Wir freuten uns natürlich alle über diesen Treffer, aber […] keiner hatte realisiert, dass ich Geschichte gemacht hatte. Ein kurzer Händedruck, das war’s, und schon ging’s weiter.“ 4:1 gewannen „Les Bleus“ das Eröffnungsspiel, wurden aber letztendlich nur Gruppenvorletzter. Argentinien siegte in dieser Gruppe vor Chile, Jugoslawien konnte in der zweiten Gruppe Brasilien und Bolivien hinter sich lassen und der Veranstalter Uruguay hatte mit Rumänien und Peru in Gruppe 3 wenig Probleme. Überraschenderweise setzte sich in der vierten Gruppe die USA durch. Die US-Boys nahmen Paraguay und Belgien je mit 3:0 auseinander und standen im Halbfinale.

Am 26. Juli liefen die Vereinigten Staaten und Argentinien im ersten Semi-Finale der WM-Geschichte auf. Die Amis konnten zunächst mithalten, auch Mittelfeldspieler Tracey gab bis zur Pause nicht auf und spielte mit gebrochenem Bein (!) weiter. Mit einem 0:1 aus Sicht der Nordamerikaner ging es in die Kabinen, dann mussten die US-Boys aber eine herbe Schlappe einstecken: 6:1 siegten die Favoriten nach 90 Minuten. Kurioserweise ging auch das zweite Semi-Finale 6:1 aus: Jugoslawien präsentierte sich gegen den Doppelolympiasieger selbstbewusst und führte ab der vierten Minute. Doch schon eine Viertelstunde später hatten die Hausherren das Spiel gedreht und nach 72 Minuten stand das Endergebnis fest.

Vier Tage danach sollte das erste WM-Endspiel ausgetragen werden, das südamerikanische Duell versprach Spannung pur. Tatsächlich reisten viele argentinische Fans aus dem nahegelegenen Buenos Aires an, der Hafen Montevideos war dermaßen überfüllt, dass viele den Weg ins Stadion bis zum Anpfiff gar nicht fanden. Der belgische Schiedsrichter Langenus, der zur Leitung des Finales bestimmt war, verlangte angesichts der emotionalen Zuschauer Personenschutz für ihn und Leibesvisitationen der Anhänger auf Handfeuerwaffen. Tatsächlich wurden den Zuschauern 1.600 Revolver abgeknöpft, mit Schüssen aus denselben hatten sie zuvor Treffer ihrer Mannschaften gefeiert. Zusätzlich beschlossen die Veranstalter nur 70.000 Menschen ins Stadion zu lassen, das eigentlich beinahe 100.000 Plätze fasst. Langenus forderte auch das Bereitstellen eines Schiffes für seine sofortige Abreise nach Spielende. Er fürchtete Ausschreitungen der Anhänger des jeweiligen Verlierers.

Das schwarze Wunder

Die erste WM war ein Kuriosum sondergleichen. Im Finale konnte man sich nicht einigen mit welchem Ball gekickt werden sollte, so kamen je ein argentinisches und ein uruguayisches Leder in einer Hälfte zum Einsatz. Die Schiedsrichter bekleckerten sich auch nicht gerade mit Ruhm: So soll Langenus ein klares Abseitstor der „Urus“ im Halbfinale nicht gepfiffen haben, sowie einen Fotografen (nach anderen Angaben: einen Polizisten) eine Flanke treten haben lassen. Der brasilianische Schiedsrichter Rego pfiff das Match Frankreich gegen Argentinien verfrüht ab, als ein Franzose gerade alleine auf dem Weg in Richtung Tor war. Die Spieler mussten wieder zurück aus den Kabinen geholt werden, am Ergebnis änderte dies jedoch nichts mehr. Außergewöhnlicher Fanhass stand aber auch im Mittelpunkt der ersten WM. Wer glaubt Hooliganismus sei eine Erfindung der Neuzeit, dem sei gesagt, dass auch die erste Fußball-WM nicht ausschließlich ein völkerverbindendes Fußballfest war. Die uruguayischen Fans unterstützten im Gruppenspiel jene Mannschaft, die gegen die „Blau-Weißen“ aus Argentinien kickte. Aus Protest wollten die Argentinier schon ihre Koffer packen, umgekehrt wurde die Botschaft Uruguays in Buenos Aires mit Steinen beworfen.

Das erste Endspiel einer Weltmeisterschaft war aber durchaus auch von sportlichem Wert. Argentinien dominierte die Anfangsphase, dann gingen die Hausherren durch einen Konter in Führung. Die „Gauchos“ gaben nicht auf und drehten das Spiel: 2:1 stand es zur Halbzeit. Erst in der zweiten Hälfte wachte Uruguay so richtig auf und besiegte das Nachbarland mit 4:2. Uruguay war der erste Fußballweltmeister. Die heimischen Fans jubelten und die Botschaft in Buenos Aires wurde von aufgebrachten Gauchos-Anhängern wieder mit Steinen bedacht.

Star des uruguayischen Siegerteams war José Leandro Andrade. Bereits bei den Olympischen Spielen 1924 hatte der dunkelhäutige „Uru“ die Aufmerksamkeit der Weltpresse auf sich gezogen. „Der lange Andrade fällt durch sein bevorzugtes Kopfballspiel auf. Die Neger scheinen Schädel wie Kokosnüsse zu haben.“, schrieb ein deutsche Fußballkommentator über ihn. Was heute als rassistische Meldung durchgehen würde, war damals ein Kompliment für den technisch starken und kräftigen Kicker.

Andrade, in bitterer Armut geboren, hatte sich vor seiner Sportlerlaufbahn als Straßenmusikant über Wasser gehalten. „Das schwarze Wunder“ war eine Art Mittelfeldregisseur und führte seine Nationalmannschaft auch ohne Torerfolg zum Weltmeistertitel. Danach endete seine glorreiche Zeit im Alter von nur 28 Jahren. Die Frohnatur war schon während europäischer Gastspiele gerne um die Häuser gezogen und dem Alkohol zugeneigt gewesen, später übersiedelt er endgültig nach Paris, wo er sein Vermögen verprasste. 58-jährig starb José Leandro Andrade in einem Armenhaus nahe Montevideo an Tuberkulose. Einer der ersten Weltmeister und Stars der Fußballgeschichte ging elendiglich zu Grunde.

Die Argentinier stellten 1930 wenigstens den besten Torschützen des Turniers: Guillermo Stábile. Der „Gaucho-Willi“ schoss acht Tore in vier Spielen. Kurioserweise waren diese vier Partien seine einzigen Spiele für die blau-weiße Nationalmannschaft. Als Teamchef konnte Stábile später allerdings sechs Mal die Copa America gewinnen. Alberto Suppici, der Trainer des Weltmeisters, ist bis heute der jüngste Coach, der je Sieger einer Endrunde wurde.„Il Profesor“ war zum Zeitpunkt des Pokalgewinnes erst 31 Jahre jung.

Trotz vieler „Kinderkrankheiten“, wie der mangelnden Organisation, der Vergabe eines Freiluftereignisses zur Winterzeit an ein Land der Südhalbkugel, fragwürdigen Spielentscheidungen und anfangs mangelndem Zuschauerinteresse, war die erste Weltmeisterschaft ein voller Erfolg. „Jeder, der nicht dabei war, hat einen Fehler gemacht.“, sagte der jugoslawische Verbandssekretär Dr. Mihailo Andrejevic. Für die FIFA zählte vor allem ein Argument, um eine Fortsetzung des Turniers zu planen: 55.000 Pesos Gewinn.

Marie Samstag, abseits.at

Marie Samstag

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