Auf nach Südamerika hieß es im Jahre 1962. Nachdem man zwei Mal auf europäischem Festland gespielt hatte, setzte sich als Veranstalter Chile gegen Argentinien... Weltmeisterschaft 1962: Das chilenische „Battlefield“

Brasilien - FlaggeAuf nach Südamerika hieß es im Jahre 1962. Nachdem man zwei Mal auf europäischem Festland gespielt hatte, setzte sich als Veranstalter Chile gegen Argentinien durch. Die Endrunde sollte allerdings eine Enttäuschung werden: 900.000 Zuschauer sahen Spiele mit nur 89 Toren, vier Jahre zuvor hatte es in Schweden 126 Treffer zu begutachten gegeben. Kein Vorrundenspiel war ausverkauft, erst das Halbfinale zwischen Brasilien und Gastgeber Chile fand vor vollen Rängen statt.

Bereits die Vorzeichen waren denkbar schlecht gewesen: Im Mai 1960 hatte ein Erdbeben Chile getroffen. Bis heute ist es das stärkste Erdbeben seit Beginn der Aufzeichnungen. Ein bis zwei Millionen Chilenen wurden obdachlos, ein darauffolgender Tsunami richtete weiteres Unheil an. Der Veranstalter konnte die Endrunde nur in jenen Stadien, die im Norden und im Zentrum des Landes lagen, austragen. Die anderen Spielstätten waren noch nicht ausreichend renoviert worden. Skeptiker wollten den Südamerikanern die WM gar entziehen, doch die Veranstalter bestanden auf den Wettkampf. „Wir hatten nichts, darum mussten wir die Weltmeisterschaft haben.“, wusste der Organisationschef. Doch es wurde kein funkensprühendes Sportfest, sondern eher eine gedämpfte Angelegenheit.

Play-Off

54 Mannschaften kämpften um 14 Startplätze. Österreich meldete sich nicht, dem ÖFB war der Anreiseweg zu weit. Schweden und Frankreich konnten die Qualifikation trotz dem letzten starken Auftritt beim Großereignis nicht überstehen. Die Schweiz, Bulgarien, Deutschland, Ungarn, die Sowjetunion, England und die Tschechoslowakei reisten schließlich nach Südamerika. Südkorea gewann zwar die Asien-Gruppe, verlor aber gegen Jugoslawien beim Entscheidungsspiel um den einzigen Platz. Da es schon bei der Qualifikation zur vorherigen WM bei den Spielen Israels Probleme gegeben hatte, wurde dem „heiligen Land“ Äthiopien und Zypern als Gegner zugelost. Die Israelis siegten in diesen Duellen, mussten sich aber gegen Italien geschlagen geben. Marokko gewann die Afrikagruppe, aber auch die Nordafrikaner schafften es nicht im Play-Off gegen Spanien ein Ticket nach Chile zu lösen. Paraguay verlor im Entscheidungsspiel zwischen Nord- und Südamerika gegen Mexiko.

Die Auslosung der Gruppen wurde äußerst kreativ gehandhabt: In den ersten Topf wurden die Südamerikaner, in den dritten Topf die vermeintlich schwächsten Teams eingeteilt. Der Rest wurde in Topf 2 „geparkt“. Bei gleicher Punktezahl nach den Gruppenspielen entschied erstmals die Torquote über ein Weiterkommen.

Ostblock, unnötige Härte und Rappans Erben

Die UdSSR und Jugoslawien standen nach der Gruppenphase überraschend vor Kolumbien und Uruguay. Deutschland dominierte Chile, Italien und die Schweiz. Brasilien und die Tschechoslowakei wurden vor Mexiko und Spanien Erster respektive Zweiter. Auch der Mitbewerber um die Veranstaltung der WM ‘62, Argentinien, wurde nur Dritter hinter Ungarn und England und vor Bulgarien. Die Osteuropäer waren die großen Gewinner dieser Gruppenphase, die nicht gerade als spielerischer Leckerbissen in Erinnerung blieb.

Zur Hochblüte des Catenaccio wurde auch diese Endrunde ein Turnier der besten Defensiven. 4-5-1 oder 5-4-1 ließ der Argentinier Helenio Herrera Inter Mailand auflaufen und begründete so deren Weltruhm. Ursprung dieser Idee war der „Schweizer Riegel“ Karl Rappans, doch 1962 spielte nicht nur die Schweiz ähnlich verteidigend.

Dieses System wurde von vielen Mannschaften bei der Weltmeisterschaft übernommen. Durch tiefes Stehen unterband man das Offensivspiel des Gegners. Hinzukommend war die Spielweise vieler Kicker außerordentlich hart bis hin zu unfair: Negativer Höhepunkt wurde die Schlacht von Santiago“ am 2. Juni, bei der es zu mehreren Tumulten auf dem Spielfeld kam. Schon nach acht Minuten gab es den ersten Platzverweis, doch der Italiener Ferrini weigerte sich das Feld zu verlassen und musste von Polizisten abgeführt werden. In Hälfte Zwei „piesackten“ sich Chiles Sánchez und Milan-Spieler Mario David solange, bis es dem Italiener reichte und er den Südamerikaner mit einem Kung-Fu-Tritt niederstreckte. Scharmützel, Rudelbildung, versteckte Fouls, rohe Zweikämpfe – Referee Aston sagte später: „Ich habe kein Fußballspiel gepfiffen, ich habe als Schlichter in militärischen Manövern agiert.“ Teilweise musste er raufende Kicker am Boden trennen. Jeder der Beteiligten war froh als die 90 Minuten um waren. Chile siegte mit zwei späten Toren und stand im Viertelfinale. Als Konsequenz dieses schmutzigen Spieles schlug Schiedsrichter Ken Aston vor, färbige Karten und eine klare Handhabung mit diesen einzuführen, damit Zuschauer und Spieler zweifellos Verwarnungen und Platzverweise mitbekamen. Nach den Viertelfinali blieben nur zwei Osteuropäer übrig. Jugoslawien konnte überraschend die BRD besiegen und die Tschechoslowakei gewann gegen Ungarn. Titelverteidiger Brasilien warf England aus dem Rennen und der Gastgeber konnte die Sowjetunion nachhause schicken.

Danach kam es zum Aufeinandertreffen Chile und Brasiliens. Die Seleção hatte ein fantastisches Turnier gespielt, auch ohne den verletzen Pelé, der wegen eines Muskelfaserrisses aus dem ersten Spiel passen musste. Chile packte wieder die „Sense“ aus und versuchte die Samba-Kicker nach der Holzhacker-Methode zu „knacken“. Doch die spielerische Klasse der Brasilianer setzte sich durch: 4:2 gewannen sie das Halbfinale. Im zweiten Semifinale siegten die über weiteren Strecken schwächeren Tschechoslowaken über Jugoslawien mit 3:1 und standen so erstmals in einem WM-Finale. Mit Josef Kadrabaspielte sogar ein Österreicher im Endspiel um den Titel mit. Der Doppelstaatsbürger lief am 17. Juni 1962 im Chilenischen Nationalstadion als Angreifer des krassen Außenseiters auf.

Genie und Wahnsinn

Seleção-Stürmer Garrincha, der im Halbfinale wegen einer Tätlichkeit vom Platz gestellt wurde, wurde für das Finale begnadigt, konnte aber keinen Treffer erzielen. Zunächst gingen die Europäer durch ein Tor von Europas Fußballer des Jahres in Führung: Josef Masopust schoss das 1:0 in der 15. Minute. Schon zwei Minuten später konnte die Seleção aber ausgleichen, erst in der zweiten Hälfte machten sie dann den Sack zu: Zito und Vavá sorgten für den 3:1-Sieg der Brasilianer. Die älteste Mannschaft des Turniers hatte erstmals in der Geschichte der WM den Titel verteidigt. Nun wurde gefeiert. Bald war aber vielen klar, dass ein Umbruch der Mannschaft bevorstand und dies ihr letztes Großereignis in dieser Form war.

Sechs Spieler erzielten bei dieser WM vier Tore. Daher bestimmte die FIFA Garrincha per Los zum Torschützenkönig. GarrinchaVavá und Amarildo, der für den verletzten Pelé einsprang, waren die Stützen im brasilianischen Team. Josef Masopust, der achtfache tschechoslowakische Meister, führte sein Nationalteam bis zum Vize-Weltmeistertitel und wurde sogar zum tschechoslowakischen Fußballer des Jahrhunderts ernannt. Offensivspieler Mário Zagallo sollte auch noch als Trainer der Seleção Weltmeister werden. Wunderkicker Pelé hätte nach seinem fulminanten Debüt auf internationaler Ebene in Schweden, diese Endrunde zu „seiner“ machen sollen. Doch nach seiner Verletzung, die er sich bei einem Schussversuch zugezogen hatte, sprangen andere für ihn in die Bresche. „Ohne Garrincha wäre ich nicht dreifacher Weltmeister geworden“, wusste auch der König des Fußballs.

Der 29-jährige Garrincha spielte eigensinnig, aber auch genial. Spielwitz und Kreativität lagen ihm. Seine geistigen Fähigkeiten dagegen waren auf dem Niveau eines Kindes angesiedelt. So sagte er auf die Bitte eines Reporters nach einem Interview etwas zum Abschied ins Mikrofon zu sagen: „Auf Wiedersehen, Mikrofon.“ Garrincha war so etwas wie der Forrest Gump der WM 1962. Auch wenn Schriftsteller Castro einen „hochsensiblen Menschen“, der sich durch Alkohol selbst zerstört hatte, hinter dem genialen Kicker vermutete, gibt es einige Anekdoten, die von seinen geringen intellektuellen Fähigkeiten zeugen. Garrincha, der mit verkrüppelten Füßen geboren wurde, war aber auf dem Platz ein „Fußball-Einstein“ mit schnellem Antritt und prall gefüllter Trickkiste. Leider hatte er schon als Zehnjähriger zu Cognac gegriffen, um seine Schmerzen betäuben, die von Operationen herrührten, die seine Fußstellung begradigen sollten. Der quirlige Spieler führte ein turbulentes Leben und starb 49-jährig an einer Alkoholvergiftung.

Die zweifache Weltmeistermannschaft brach nach dem Titelgewinn nun auseinander: Tormann Gilmar verlor seinen Stammplatz. Djalma Santos, der eine der Defensivstützen bei dieser WM war, war mit 33 Jahren bereits nahe am Karriereende. Auch Nílton Santos zählte 37 Lenze. Der Mittelfeldstar Didi war Jahrgang 1928.

Die Chilenischen Veranstalter schrieben zwar ein Einnahmenplus, waren sich aber im Klaren, dass dieses Turnier sportlich nicht lange in Erinnerung bleiben würde. Vier Jahre später wurde die Weltmeisterschaft dann wieder am europäischen Festland ausgetragen: Greetings from Great Britain.

Marie Samstag, abseits.at

Marie Samstag

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