Weltmeisterschaft 1970: Die Rückkehr des Königs
WM 2014 | Geschichte der WM 6.Juni.2014 Marie Samstag 0
„Noch einmal stürmt, noch einmal, liebe Freunde!“, sagt Heinrich der Fünfte im gleichnamigen Stück von Shakespeare. Mit vielleicht ähnlichen Worten überredete Nationaltrainer Mário Zagallo anno 1970 seinen früheren Mannschaftskameraden Pelé zu einer Rückkehr ins brasilianische Nationalteam. Der geniale Stürmer hatte nach der enttäuschenden WM in England seine Nationalteamkarriere beendet und zierte sich nun wieder in die Seleção zurückzukehren. Die Austragung der WM sollte in Mexiko stattfinden, das sich bei der Vergabe knapp gegen Argentinien durchgesetzt hatte. Zwei Jahre zuvor hatte die ehemalige spanische Kolonie schon die Olympischen Sommerspiele ausgetragen und war für ein Großereignis bestens gerüstet.
Brasilien, Uruguay und Italien hatten bei dieser WM die Chance zum dritten Mal Weltmeister zu werden. Die FIFA beschloss daher, dass der Weltpokal, benannt nach Jules Rimet, dem „Vater“ des Turniers, ein letztes Mal vergeben werden würde. Dazu beschloss der Weltfußballverband einige Regeländerungen.
Montezumas Rache
Erstmals sollten gelbe und rote Karten zum Einsatz kommen. Außerdem wurden aufgrund der klimatischen Belastung zwei Auswechslungen pro Team und Spiel gestattet. In der Tat fürchteten einige Nationalteams die ungewöhnliche Höhe von teils über 2.200 Metern, die Hitze und das verschmutzte Wasser. „Montezumas Rache“ ist unter Touristen, die Lateinamerika besuchen als häufiger, schmerzhafter Gang zur Toilette bekannt. Durchfallerkrankungen, die der Legende nach vom Aztekenkönig Montezuma selbst stammen. Dieser soll nach der Eroberung Tenochtitláns den Fluch, dass jeder Eindringling seine Rache zu spüren bekäme, ausgestoßen haben. Die Kicker bekamen zur Vorbeugung langer „Klo-Sessions“ eine tägliche Alkoholration verordnet. Das „Feierabendbier“ gab es also quasi auf Anordnung des Trainers.
Ganze 71 Teams meldeten sich zur Qualifikation an. Jeder Kontinent konnte sich vertreten lassen: Deutschland, England, Italien, die Sowjetunion, Brasilien, Mexiko, Peru, Uruguay, Belgien, Bulgarien, Schweden, die Tschechoslowakei, El Salvador, Israel, Marokko und Rumänien qualifizierten sich schließlich. Das Überraschungsteam Portugal von England ’66 verpasste die Teilnahme an der Endrunde.
Bei der Auslosung der Gruppen für die erste Turnierphase „stopfte“ man die kleinen Teams, El Salvador, Israel und Marokko, in Topf 4 und loste noch Rumänien dazu. Mexiko wurde vorab in Gruppe A gesetzt, der Weltmeister England in Gruppe C.
In Gruppe A spielte der Gastgeber gemeinsam mit der UdSSR, Belgien und El Salvador. El Salvadors Reise zur Endrunde hatte sich schwierig gestaltet: Nach dem Sieg gegen Los Catrachos aus Honduras brach der Krieg zwischen den ohnehin schon verfeindeten Staaten aus. Knackpunkt dabei waren 300.000 Wirtschaftsflüchtlinge, die aus dem kleinsten Land Zentralamerikas nach Honduras, ausgewandert waren. El Salvador marschierte schließlich in Honduras ein.
Am Ende der Gruppenphase hatten die UdSSR und Mexiko gleichviele Punkte und die Sowjetunion wurde per Los zum Gruppensieger gemacht. Italien und Uruguay standen in Gruppe B an der Spitze, Brasilien gewann alle drei Vorrundenspiele und zog vor England ins Viertelfinale ein. Auch die Deutschen mit „Bomber“ Müller an Bord konnten in drei Spielen siegreich vom Platz gehen. Peru setzte sich vor Bulgarien und Marokko durch.
Im Viertel- und Halbfinale sah man bereits großartige Spiele: Deutschland siegte 3:2 nach Verlängerung gegen England. „No chance, today is our Wembley.“, hatte Uwe Seeler Bobby Charlton im Kabinengang klar gemacht. Lange Zeit spielten die „Three Lions“ ihren „Lieblingsgegner“ aber an die Wand: Zwei Tore lagen die Briten bis zur 69. Minute in Führung. Dann hauchte Beckenbauer mit seinem Sololauf und anschließendem Aufsetzertor den Deutschen wieder Leben ein. Uwe Seeler, die 33-jährige HSV-Legende, köpfte mit seinem Hinterkopf die BRD in die Verlängerung. „Es war eines der größten Spiele unserer Mannschaft überhaupt“, war sich DFB-Teamchef Schön nach dem 3:2-Volleytreffer Müllers sicher.
„Das Spiel kann vom Finale nicht übertroffen werden.“
Die Italiener spielten defensiv und kamen mit einem Torverhältnis von 1:0 ins Viertelfinale. Gegen Gastgeber Mexiko hatte man dann im Finale wenig Mühe und gewann 4:1. Auch Favorit Brasilien stieg mit einem 4:2 gegen Peru ins Semifinale auf. Das einzig Erstaunliche an diesem Tag war, dass Pelé keinen Treffer erzielt hatte. Uruguay gewann im bestbesuchten und unattraktivsten Viertelfinale dieser WM gegen die Sowjetunion mit einem Verlängerungstreffer knapp.
Erstmals hatten sich nur Ex-Weltmeister durchgesetzt und man konnte auf spannende Semifinali hoffen. Im „Jahrhundertspiel“ Deutschland gegen Italien kamen die Zuschauer voll auf ihre Kosten: Die Italiener führten von der siebenten Minute bis in die Nachspielzeit. Erst dann gelang Mailand-Legionär Schnellinger der Ausgleich und nach einem kuriosen Müller-Abstauber standen die Deutschen auf einmal mit einem Bein im WM-Finale. Doch die Squadra Azzurra schlug zurück und egalisierte nach einem Fehler der DFB-Elf vorerst. In der 104. Minute brachte Riva die Südeuropäer sogar wieder in Führung, Müller machte das 3:3 und der status quo war wieder hergestellt. Gianni Rivera sorgte schließlich für den 4:3–Sieg Italiens. Nach dem Schlusspfiff war das Ergebnis aber erstaunlicherweise relativ egal: Verlierer und Sieger lagen sich in den Armen und die Zuschauer feierten ein tolles Spiel. Im Azteken-Stadion erinnert bis heute eine Gedenktafel an das legendäre Halbfinale, bei dem sich keines der beiden Teams bis zur letzten Minute aufgegeben hatte.
Brasilien besiegte Uruguay im zweiten Semifinale mit 3:1 und wurde Italiens Finalgegner. Die Deutschen traten daraufhin im Spiel um Platz drei gegen Uruguay an und gewannen 1:0.
Im Finale waren die Kräfte der Squadra Azzurra dann erschöpft. Zwar konnten sie gegen Ende der ersten Hälfte Pelés 1:0 ausgleichen, danach war das Match aber gelaufen: 4:1 hieß es am Ende durch Treffer von Carlos Alberto, Gérson und Jairzinho und die Seleção war Triple-Weltmeister. Für viele war die Mannschaft, die zum letzten Mal den Jules-Rimet-Pokal in die Höhe stemmte, die beste brasilianische Nationalmannschaft aller Zeiten. Jairzinho, Tostão, Gérson, Roberto Rivelino tanzten angetrieben vom 29-jährigen „O Rei“ Pelé auf dem Spielfeld: Schneller Antritt und rasche Positionswechsel machten sie zur gefährlichsten Offensivabteilung der Welt. Torschützenkönig dieser WM wurde aber „Bomber“ Müller. 32 Jahre lang belegte der Stürmer Platz Eins in der ewigen WM-Torschützenliste, in Deutschland sind einige Rekorde des Angreifers bis heute unerreicht.
Jairzinho, dessen Antlitz an das Konterfei Neymars erinnert, erzielte in jedem Spiel der WM 1970 mindestens ein Tor. Brasiliens Außenverteidiger Carlos Alberto und Everaldo galten als die Besten ihrer Zeit.DieSeleção hatte es erneut geschafft mit erfrischendem Offensivfußball und Spielfreude Weltmeister zu werden. Ihr Held Pelé, der nach der verpatzten WM in England nun seine Klasse zeigen konnte, beendete ein Jahr später seine Länderspielkarriere und sicherte sich seinen Legendenstatus auch mit diesem WM-Triumph.
Marie Samstag, abseits.at
Marie Samstag
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