Im Duell um Platz drei, das keiner haben wollte, war der Schiedsrichter so, wie ihn keiner haben wollte. Kein Psychoduell zweier Mannschaften, eher ein... Das brasilianische Blackout: Analyse einer sportlichen Katastrophe

Ausschreitungen in Brasilien Demonstration FansIm Duell um Platz drei, das keiner haben wollte, war der Schiedsrichter so, wie ihn keiner haben wollte. Kein Psychoduell zweier Mannschaften, eher ein „Psycherl“ als Spielleiter gab es im Spiel um Platz drei zwischen den Niederlanden und Gastgeber Brasilien zu beobachten.

Einen Elfer, der keiner war und eine rote Karte, die nicht gegeben wurde, servierte der algerische Referee als Vorspeise. Danach empfand Haimoudi einen Elfer an Oscar als nicht „pfeifwürdig“ und zeigte dem verdutzten Chelsea-Profi stattdessen die gelbe Karte für eine vermeintliche Schwalbe. Zur Garnierung ließ der Schiedsrichter die übliche harte Gangart ebenso gewähren und schloss das Spiel ohne Platzverweis ab. Aber auch wenn man den „schwarzen Mann“ außen vorlässt, war es kein gutes Spiel der Seleção. Gebrochen von der 1:7-Klatsche agierte man auch gegenüber der Elftal einfallslos und verängstigt.

Kein Hexacampeão im eigenen Land, dabei hatten die Samba-Kicker so gut begonnen: Die a cappella-Verlängerung der mit Inbrunst geschmetternden Hymne, die instrumental (weit) entfernt an eine Strauß-Polka erinnert, war der erste „Gänsehaut-Augenblick“ der Endrunde 2014. Als das Spiel jedoch angepfiffen wurde, konnten die Samba-Kicker nur mit Hilfe des japanischen Schiedsrichters den Auftaktsieg einfahren. In Samba-Tradition traten die Brasilianer übrigens gar nicht auf. Es wurde eher geholzt und gewürgt und zwischendurch auf Eingebungen von Neymar jr. gehofft. Besagter Hoffnungsträger verletzte sich im Viertelfinale schwer oder wurde, besser gesagt, schwer verletzt. Eine Warnung des Schicksals?

Analyse einer Katastrophe

„Nur Gott kann dieses Desaster erklären.“, schiebt Pelé die Schuld nach dem 1:7-Debakel nach ganz oben weiter. Doch besagte Instanz braucht man nicht um nach Gründen des Scheiterns zu fragen. Die Samba-Kicker fielen etwas sehr Irdischem zum Opfer: Ihrer Unform und Scolaris System.

Vor dem Beginn der Endrunde handelten viele die Seleção als Favoriten.Auf dem Papier war sie auch eine Topmannschaft, die von der Euphoriewelle direkt ins Finale getragen werden sollte. Doch obwohl Chelsea-, Barcelona-, Bayern- und Roma-Kicker mit von der Partie waren, ließen die Topspieler ihr Topniveau „zuhause“: Marcelo, nach eigenen Angaben bester linker Verteidiger der Welt, sorgte für den ersten Treffer (ins eigene Tor), Dani Alves wurde nach haarsträubenden Leistungen bald auf die Bank verbannt, Kapitän Thiago Silva schaffte es nicht die Verteidigung um sich zu stabilisieren. In der Offensive konzentrierte sich alles auf Neymar, der von Hulk, Oscar und Fred noch weniger Unterstützung bekam, als Messias Messi von Aguero oder Higuain auf argentinischer Seite.

In der Defensivabstimmung verhielten sich die brasilianischen Kicker katastrophal. Kein geordneter Aufbau, eine fahrige, unsichere Spielweise und ein totales Blackout ohne die Bausteine Neymar und Thiago Silva gegen Deutschland – so setzt sich trotzallem ein vierter Platz bei dieser WM-Endrunde zusammen. Das ist eigentlich beachtlich, die hochgeschraubten Erwartungen sind aber nicht erfüllt worden.

Das Mineiraço, die Schande der 1:7-Niederlage im Mineirão, ist hoffentlich ein geeigneter „wake-up-call“ für die Fußballnation Brasilien. Die Fortsetzung des Maracanaço braucht es, um mit beiden „Boden wieder auf der Tatsache zu sein“, würde Frank Rost sagen. Jetzt muss die Stunde 0 in Südamerika genutzt werden: Scolari geht, ebenso wie Julio Cesar und Fred. Ein Neuanfang ist angesagt.

Anger Management

Sportlich gesehen kann man in Brasilien auf verbranntes Land zurückblicken, in wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht hat man die schwere Pleite der Seleção gar nicht abwarten müssen. In diesem Punkt hatte Brasilien noch bevor das erste Spiel angepfiffen wurde, verloren. Wenn ein Großereignis losgeht, fällt es auch Sympathisanten der Protestaktionen schwer, ihre Aufmerksamkeit nicht zu verschieben. Schließlich freuen sich sämtliche Leute auf unterhaltsame Spiele und werden durch deren auffällige Inszenierung gut abgelenkt. Auch die Berichterstattung geht zu den Spielen über, man will schließlich die Konsumenten bedienen. Als Neymar in den Rücken getreten wurde und nicht weiterspielen konnte, verschlang diese Schlagzeile den größten Platz in der Zeitung von morgen. Dass am selben Tag eine, eigens für die WM errichtete, Brücke eingestürzt war und eine Busfahrerin dabei ihr Leben verloren hatte, sowie weitere 22 Personen verletzt wurden, war nur mehr eine Randnotiz.

Sportsoziologe Albrecht Sonntag weiß: „Ökonomisch [bringt eine Ausrichtung der WM-Endrunde, Anm.] gar nichts. Selbst wenn die WM kostengünstig organisiert wird, wie 2006 in Deutschland, ist der ökonomische Nutzen für die Bevölkerung gleich null oder gar negativ.“ Einzig und allein nationale Interessen werden so gestärkt. Doch Sonntag ist sich auch sicher: „Es bleibt das Bild einer WM, die ganz offensichtlich eine Riesengeldverschwendung ist, obwohl sie sportlich und stimmungsmäßig ein Erfolg ist. Die Probleme hat jeder mitbekommen. Und ich kann mir vorstellen, dass sich Brasilien dadurch langfristig verändern wird.“

Andere haben mit dem kommerziellen Fußball an sich schon ihre liebe Not und nutzten die Berichterstattung rund um diese Endrunde um ihre Meinung kund zu tun: „Muss es so ausarten, dass 22 Multimillionäre spielen? Kann man Sport nicht wieder normal betreiben?“, fragt Konstantin Wecker.Antwort: Ja, natürlich: Man nehme einen Ball, suche genügend Platz und ausreichend Mitspieler und betreibe den Sport normal. Der Profi-Fußball, der nationale Fußball wird sich aber nur schwer verändern lassen, seine Massentauglichkeit hat ihn populär und zu einem Wirtschaftszweig werden lassen. Milliarden sind mit ihm umgesetzt worden und werden auch noch mit ihm umgesetzt werden. Aus dem Spiel ist ein Spiel mit Riesenmaschinerie geworden.

Marie Samstag, abseits.at

Marie Samstag

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