Spektakulär, aber defensiv mit Fragezeichen: Ist Deutschland stabil genug für den Titel?
WM 2014 | Taktikanalyse 22.Juni.2014 Leonard Dung 0
Die deutsche Mannschaft zählt zu den Titelanwärtern, denn die variable Sturmreihe verleitet zum Schwärmen. Aber nach dem beeindruckenden Sieg gegen Portugal nährt das Unentschieden gegen Ghana doch wieder Zweifel an der Defensive.
Lahm im Mittelfeld
Die große Frage nach der Positionierung Lahms beantwortete Löw klar: Der Kapitän läuft im Mittelfeldzentrum auf, während Boateng und Höwedes die Außenverteidigerpositionen besetzen. Kroos lässt sich immer wieder in den defensiven Halbraum fallen, um sich dem Zugriff der gegnerischen Mittelfeldspieler zu entziehen. Er unterstützt von dort den Spielaufbau, während Khedira nach vorne stößt, im Strafraum präsent ist und seine Zweikampfstärke im Gegenpressing einbringt. Deutschland lässt den Ball gewöhnlich ruhig zirkulieren, um dann mit vertikalen Flachpässen in den Zwischenlinienraum zu gelangen. Lahm und Kroos, vom FC Bayern einen ruhigen Spielaufbau gewohnt, zeigen sich dabei auch unter Druck sehr pressingresistent, weswegen es gefährlich ist, gegen Deutschland hoch zu attackieren.
So kreierten sie auch gegen Ghana, die mit sehr hoher Abwehrkette agierten, zu Beginn Chancen. Die zentralen Mittelfeldspieler rückten immer wieder auf Lahm oder Kroos, um den Ball zu erobern. Doch Hummels und Mertesacker kontrollierten ruhig den Ball, bis sich ein scharfer Pass neben den verbliebenen „Sechser“ Ghanas anbot. Als die Afrikaner sich weiter zurückzogen, reduzierten sich allerdings Deutschlands Spielanteile. Ghana lief später im Spiel, nach dem Gegentor und dem schnellen Ausgleich, wieder höher an, dabei konnten sie trotzdem Ballverluste provozieren. Die deutsche Ruhe war verflogen, so ließ sich Lahm schließlich zu einem Fehlpass hinreißen, der zum zwischenzeitlichen 1:2 führte.
Fluidität in der Offensive
Auch gegen Portugal kombinierte Deutschland ansehnlich mit dem fluiden Trio aus Götze, Özil und Müller. Götze und Özil bewegten sich häufig ins Zentrum, um den Zwischenlinienraum zu infiltrieren. Auch auf der rechten Seite stellten sie situativ Überzahl her, wenn Götze auf diesen Flügel schob. Zudem wich Müller, der nominelle Mittelstürmer, auch gelegentlich auf den Flügel aus. Ein perfektes Beispiel für Deutschlands Fluidität war das 1:0: Müller befand sich rechts, wo er mit dem eingerückten Özil einen schnellen Doppelpass spielte. Anschließend passte er zu Götze, der auf die Mittelstürmerposition rochiert war, woraufhin er einen Elfmeter rausholen konnte.
Müller zeigte insgesamt eine überragende Leistung, indem er das Einrücken der Außen ausglich und trotzdem die Zeit fand, drei Tore zu erzielen. Nach dem Führungstreffer garnierte Deutschland die schönen Ballstafetten mit schnellen Kontern, die häufig Kroos mit seinen präzisen, langen Pässen einleitete. Wegen der kopfballstarken Abwehr strahlen sie nun selbst nach Ecken mehr Gefahr aus, was lange als große Schwachstelle des Teams galt. Hummels gegen Portugal und Klose im Duell mit Ghana wiederlegten diese These jedoch.
Überzeugend im ersten Spiel, aber wacklig im Zweiten
Indem Löw die Rolle des offensiven Mittelfeldspieler abschaffte und Lahm ins defensive Zentrum beorderte, beabsichtigte er, die Ballsicherheit und Defensivstärke zu erhöhen. Der Sieg gegen Portugal schien diese Hoffnung zu bestätigen. Die Mannschaft wirkte nicht komplett unverwundbar, ließ aber immerhin nur wenige Chancen zu. Man muss diese Tatsache allerdings relativieren, da Portugal nach Pepes Platzverweis in der 37. Minute erheblich geschwächt und somit deutlich leichter zu verteidigen war. Ghana bewies, dass man Deutschlands Defensive ins Wanken bringen kann.
Sie kombinierten bevorzugt dynamisch über den rechten Flügel, ganze 47% der Angriffe liefen über diese Seite. Der schnelle und bewegliche Atsu konnte zu oft unbedrängt flanken, da sein Gegenspieler Höwedes als ausgebildeter Innenverteidiger seine Stärken nicht in diesen Bereichen hat. Boateng, Muntari und Gyan unterstützten den quirligen Außen in seinen Aktionen, was womöglich noch größere Folgen gehabt hätte, hätte Ghana seine Angriffe klarer ausgespielt. Wie schon gegen die USA suchten sie oft überhastet den Abschluss aus der Distanz, womit sie im Ansatz gute Gelegenheiten vergeudeten. Außerdem erzeugten mit steigender Spielzeit die Läufe der Außenverteidiger Gefahr, die von Götze und Özil nicht so energisch wie gegen Portugal verfolgt wurden. Als die Partie sich dem Ende näherte, agierten beide Mannschaften direkt und ohne Ruhe im Spielaufbau. Dieser hektische Rhythmus sorgte dafür, dass Ghana über Konter dem Torerfolg nahekam, wobei sich auch für die deutsche Elf einige Möglichkeiten ergaben.
Auf der Suche nach Konstanz
Wie schon bei den letzten Turnieren, ist Deutschlands Offensive immer brandgefährlich. Mittlerweile sind sie sogar dazu in der Lage, tiefstehende Abwehrreihen mit schnellem Kurzpassspiel zuverlässig zu überwinden, was sonst kaum einer Nationalmannschaft gelingt. Entscheidend wird sein, dass die Defensive dieses Niveau annähernd halten kann. Obwohl die Systemumstellung sich diesbezüglich positiv bemerkbar machte, ist das Pressing wechselhaft. Gegen Portugal formierten sie sich in einem 4-1-2-3, das recht stabil war und sich in tieferen Räumen in ein 4-1-4-1 transformierte. Ghana wollten sie mit einem 4-2-3-1 begegnen, das allerdings an zu großen Abständen krankte. Müller lief engagiert die Innenverteidiger an und wollte sie ins Zentrum lenken, von dort schoben Kroos und Khedira jedoch nicht energisch nach. Daher konnte Ghana Müller überspielen und dann die Angriffsseite variieren.
Eine weitere Frage ist, ob es gelingt, die Defizite der Außenverteidiger zu kaschieren. Sowohl Boateng als auch Höwedes fühlen sich in der Innenverteidigung wohler. Ersterer hält sich zwar offensiv auf seinem Flügel zurück, ist im Defensivzweikampf aber auch außen sicher. Höwedes allerdings ist gegen agile Dribbler anfällig, zumal er als Rechtsfuß auf der linken Seite, also mit seinem schlechten Fuß, verteidigen muss. Sollte es Joachim Löw aber gelingen, das Pressing kohärent zu gestalten und defensive Stabilität zu erreichen, gehört Deutschland zu den heißesten Anwärtern auf den WM-Sieg.
Leonard Dung, abseits.at
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