{"id":92376,"date":"2024-05-26T14:00:54","date_gmt":"2024-05-26T12:00:54","guid":{"rendered":"https:\/\/abseits.at\/?p=92376"},"modified":"2024-05-27T08:46:15","modified_gmt":"2024-05-27T06:46:15","slug":"ernsthaftigkeit-zum-sonntag-224-haftort-praterstadion-sonderfolge","status":"publish","type":"post","link":"https:\/\/abseits.at\/in-depth\/gesellschaft-ethik\/ernsthaftigkeit-zum-sonntag-224-haftort-praterstadion-sonderfolge\/","title":{"rendered":"Ernsthaftigkeit zum Sonntag (224) \u2013 Haftort: Praterstadion [Sonderfolge]"},"content":{"rendered":"\n\n
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\"\"<\/a>Mit Fu\u00dfballstadien verbindet man in der Regel Emotionen: Siegesgl\u00fcck, Niedergeschlagenheit, nerv\u00f6ses Zittern und Beben, Wut, Hoffnung, Begeisterung – kurz: passionierte Massendynamik. Oft scheint es, als gehe es um Leben und Tod, dabei wohnt das Publikum nur einem Wettstreit, den hoffentlich die bessere Mannschaft gewinnt, bei. Im Grunde genommen – und vor dem Hintergrund wirklich wichtiger Dinge – steht also nicht viel auf dem Spiel. Hin und wieder werden Stadien aber zweckentfremdet und dann werden aus Sportst\u00e4tten, die der Unterhaltung dienen, pl\u00f6tzlich Orte des (echten) Grauens: 1942 sperrte die franz\u00f6sische Polizei auf Dr\u00e4ngen der deutschen Besatzer bei der \u201eRafle du V\u00e9lodrome d\u2019Hiver\u201c z.B. mehr als 13.000 Juden und J\u00fcdinnen in eine (heute nicht mehr existierende) Pariser Radsporthalle, die chilenische Milit\u00e4rjunta folterte zwischen September und November 1973 rund 7.000 Oppositionelle im Nationalstadion von Santiago de Chile. Und auch in der Geschichte des heutigen Ernst-Happel-Stadions findet sich eine dunkle Episode:<\/p>\n

Nach dem viel begr\u00fc\u00dften Anschluss an Nazi-Deutschland fanden im August \u201939 die Studentenweltspiele unter anderem im Wiener Praterstadion statt. Am 1. September desselben Jahres begann der Zweite Weltkrieg mit dem deutschen \u00dcberfall auf Polen und Fu\u00dfball trat (selbstverst\u00e4ndlich) in den Hintergrund. Parallel dazu f\u00fchrten die Nazis Krieg gegen ihr eigenes Volk bzw. gegen jene, die sie von vornherein als nicht zu diesem zugeh\u00f6rig erachteten.<\/p>\n

Nachdem die Gef\u00e4ngnisse \u00fcberf\u00fcllt waren, verschleppte die Wiener Polizei Anfang September 1939 \u00fcber 1.000 j\u00fcdische M\u00e4nner, die als \u201eStaatenlose\u201c galten oder die polnische Staatsb\u00fcrgerschaft besa\u00dfen, weil sie nach dem Zusammenbruch der \u00f6sterreichisch-ungarischen Monarchie (vorwiegend) aus dem ehemaligen Galizien nach Wien kamen, in die Katakomben des Praterstadions. Die Situation der H\u00e4ftlinge war mehr als trostlos: Ihre \u201eBetten\u201c bestanden aus Strohunterlagen, die Verpflegung war karg und die W\u00e4rter schreckten vor Pr\u00fcgel nicht zur\u00fcck. Dar\u00fcber hinaus gab es keine M\u00f6glichkeit die Sanit\u00e4rr\u00e4ume zum Duschen oder Rasieren zu n\u00fctzen. Manche H\u00e4ftlinge mussten bei immer k\u00fchleren Temperaturen sogar im Freien schlafen, den Rasen zu betreten war strengstens verboten. Keiner der M\u00e4nner wusste, wie es weitergehen w\u00fcrde und was sie \u00fcberhaupt verbrochen hatten.<\/p>\n

Einige der \u201estaatenlosen\u201c bzw. polnischen Juden wurden w\u00e4hrend dieser Haftzeit im Praterstadion auch Opfer pseudowissenschaftlicher Forschung: Dr. Josef Wastl, Ex-Olympionike und promovierter Anthropologe, pickte sich 440 H\u00e4ftlinge f\u00fcr seine Untersuchungen heraus. Wastl, der fr\u00fcher Wettkampfschwimmer war, hatte einst seine Dissertation \u00fcber \u201eAnthropologische Untersuchungen an 525 kriegsgefangenen Baschkiren\u201c verfasst und verma\u00df nun die gefangenen Juden des Praterstadions auf \u201eRassemerkmale\u201c. Der Leiter der anthropologischen Abteilung des Naturhistorischen Museums Wien und sein Team fertigten \u00fcber 700 Fotos an und f\u00fcllten 400 Messbl\u00e4tter mit biografischen und biometrischen Daten aus – Aktenvermerk \u201eJuden Stadion\u201c.<\/p>\n

Einer von den Begutachteten war Gustav Pimselstein, der sechzehnj\u00e4hrig gemeinsam mit seinem Vater verschleppt wurde. Am 30. September wurden sie mit den \u00fcbrigen H\u00e4ftlingen in das Konzentrationslager Buchenwald \u00fcberstellt. Pimselstein wurde 1940 entlassen und fl\u00fcchtete anschlie\u00dfend nach Israel, wo er seinen Namen in Gershon Evan \u00e4nderte. Sp\u00e4ter zog er in die USA. Sein Leben, das sich einst von einem auf den anderen Tag ge\u00e4ndert hatte, schrieb er in \u201eWinds of Life. Destinies of a Young Viennese Jew 1938-1958\u201c nieder. 2015 starb Evan mit 91 Jahren in San Jose, Kalifornien – ein vertriebener Sohn der Stadt Wien.<\/p>\n

\u00dcber die kurze Haftzeit berichtete Evan in seinen Lebenserinnerungen, dass sich die Gefangenen mit Schachspielen aus Brot geformten Figuren und Spekulationen \u00fcber ihre Zukunft abgelenkt hatten. Die Angst war immer gegenw\u00e4rtig. Gegen Ende September konnten sie aus dem abgez\u00e4unten Bereich des Sektors B Rasenpflege beobachten, da d\u00e4mmerte es so manchem, dass ein Aufbruch in eine wohl schrecklichere Zukunft bevorstand. Tats\u00e4chlich wurden die H\u00e4ftlinge am Wiener Westbahnhof in Z\u00fcge gepfercht, w\u00e4hrend im Praterstadion von lokalen Vereinen wieder Fu\u00dfball gespielt wurde. Nur 26\u00a0Unschuldige der Polizeiaktion im September \u201939 sollten die Befreiung 1945 erleben. Heute erinnert eine Gedenktafel am Ernst-Happel-Stadion an jene Ereignisse, die weder auf Sportanlagen noch irgendwo sonst stattfinden sollten.<\/p>\n\n","protected":false},"excerpt":{"rendered":"

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