{"id":94059,"date":"2024-08-21T07:50:05","date_gmt":"2024-08-21T05:50:05","guid":{"rendered":"https:\/\/abseits.at\/?p=94059"},"modified":"2024-08-20T16:28:49","modified_gmt":"2024-08-20T14:28:49","slug":"buchrezension-mutproben-von-thomas-hitzlsperger","status":"publish","type":"post","link":"https:\/\/abseits.at\/in-depth\/fusballkunst\/buchrezension-mutproben-von-thomas-hitzlsperger\/","title":{"rendered":"Buchrezension | \u201eMutproben\u201c von Thomas Hitzlsperger"},"content":{"rendered":"\n\n
\n\"\"\/\n<\/div>\n\n

\"\"<\/a>Als ich Thomas Hitzlsperger anl\u00e4sslich seines \u201eComing-outs\u201c im J\u00e4nner 2014 Mut attestiert habe<\/a>, wurde ich gefragt, inwiefern die Aktion des ehemaligen Profis denn \u00fcberhaupt mutig gewesen sei. Das sieht Hitzlsperger wohl \u00e4hnlich. In seinem im M\u00e4rz 2024 erschienenen Buch \u201eMutproben\u201c gibt er n\u00e4mlich zu, dass er mit seinem \u00f6ffentlichen Statement einst nicht viel riskiert hatte: In Deutschland habe ihn die Verfassung vor Diskriminierung gesch\u00fctzt; das Werturteil seiner Mitmenschen sei ihm nur bedingt wichtig gewesen. \u201eMutproben\u201c ist eine Art Biografie vervollst\u00e4ndigt durch \u201eHitz\u201c Gedanken zur aktuellen Fu\u00dfballwelt. Es ist kein schlechtes Buch; vielmehr das oberfl\u00e4chliche Psychogramm eines denkenden Menschen. Viel Innovatives enth\u00e4lt es aber nicht.<\/p>\n

\u201eIch steh auf M\u00e4nner.\u201c <\/strong><\/h3>\n

Thomas Hitzlsperger hat in seiner Karriere viel gesehen und viel erlebt: 1982 in M\u00fcnchen geboren zieht er noch als Nachwuchsspieler auf die Insel zu Aston Villa. Sp\u00e4ter lebt und spielt er in Stuttgart, London, Liverpool, Wolfsburg und Rom. Er tr\u00e4gt \u00fcber 50-mal das Trikot des DFB-Teams, wird deutscher Meister, Pokalfinalist und WM-Dritter. Diese abwechslungsreiche Laufbahn ger\u00e4t allerdings seit dem legend\u00e4ren Interview mit der Zeit<\/em> in den Hintergrund; f\u00fcr die meisten Fu\u00dfballkonsument:innen gilt Hitzlsperger seither nur mehr als \u201eschwuler Ex-Profi\u201c. Mit seinem \u201eComing-out\u201c wollte der geb\u00fcrtige M\u00fcnchner vor zehn Jahren eine Debatte ansto\u00dfen, jetzt zieht er in \u201eMutproben\u201c Bilanz. Was hat sich ver\u00e4ndert? \u201eDer Umgang mit Worten ist ein anderer geworden.\u201c<\/em>, schreibt Hitzlsperger, um sp\u00e4ter wiederholt zugeben zu m\u00fcssen, dass der status quo der Fu\u00dfballwelt Kompromisse notwendig macht.<\/p>\n

Sein Outing lag zum Zeitpunkt der Ver\u00f6ffentlichung schon zweieinhalb Jahre in der Schublade, urspr\u00fcngliche wollte der Mittelfeldspieler noch als Aktiver mit seiner sexuellen Orientierung offen umgehen. Es d\u00e4mmerte ihm, als er noch bei West Ham unter Vertrag stand und zur Reha am Tegernsee war: \u201eIch steh auf M\u00e4nner.\u201c<\/em> Dass er diese Erkenntnis eines flie\u00dfenden Prozesses w\u00e4hrend seiner Zeit als Profi letztendlich trotzdem f\u00fcr sich behielt, will Hitzlsperger nicht (nur) auf die – oft gescholtenen – Fans schieben; \u201edie Situation in der Kabine <\/em>[ist] entscheidender. Es ist nun mal sehr intim in so einer Kabine, man duscht zusammen, man ist sich k\u00f6rperlich nah.\u201c <\/em>Heimlich lebte er in seinem letzten Profijahr mit seinem ersten Freund aus San Francisco in Liverpool zusammen. Eindr\u00fccklich beschreibt er in \u201eMutproben\u201c wie ihn dieses Versteckspiel belastete: Thomas K\u00f6rper blockierte schlie\u00dflich, er beendete seine Karriere im September 2013 \u2013 ein halbes Jahr vor der Ver\u00f6ffentlichung des Zeit<\/em>-Interviews.<\/p>\n

Begonnen hat sein Leben in einem \u00e4hnlich konservativen Umfeld wie dem M\u00e4nnerfu\u00dfball: Hitzlsperger w\u00e4chst als j\u00fcngstes von sieben Kindern auf einem Bauernhof im idyllischen Forstinning in Bayern auf. Bevor er \u201eHitz – The Hammer\u201c wird, knallt er als \u201eH\u00e4mmerchen\u201c den Putz vom Stall und perfektioniert seine Schusstechnik am Futtersilo. Bald chauffiert der Papa seinen hochbegabten Sohn dreimal die Woche zum Training der FCB-Knirpse, obwohl die Hitzlspergers allesamt Sechzger<\/em> sind. In seiner Kinderwelt sei alles in Balance gewesen erinnert sich Thomas in \u201eMutproben\u201c. Sp\u00e4ter – kurz vor seiner \u00f6ffentlichen Beichte – l\u00e4dt der Fu\u00dfballpensionist seine Eltern zum Essen ein, um ihnen zu erz\u00e4hlen, was bald die ganze Welt wissen wird. Hitzlsperger senior ist nicht begeistert, er hat \u201eein paar S\u00e4tze losgelassen, die nicht so cool waren.\u201c<\/em> Schlie\u00dflich einigen sich die Eltern auf stummes Einverst\u00e4ndnis.<\/p>\n

In der Bayern-Jugend ist \u201eTom\u201c nicht der Beste, aber unter den Besten. Weil er trotzdem das Gef\u00fchl hat, dass er es nicht in die Kampfmannschaft des Rekordmeisters schaffen wird, trainiert er heimlich bei Aston Villa mit und wechselt im Sommer 2000 schlie\u00dflich nach Birmingham. Eine Leihe zu Chesterfield ist seine Feuerprobe f\u00fcr die Premier League. \u201eEs ging da schon wild zu, technisch eher anspruchslos. Aber ich hab\u2019s geliebt.\u201c<\/em>, res\u00fcmiert er seine f\u00fcnf Jahre bei Villa. Er spielt meistens gegen den Abstieg und gewinnt nichts. Die Fans m\u00f6gen ihn jedoch. Wegen seines scharfen Schusses kommt er zu seinem Spitznamen; von der Trib\u00fcne schallt es \u201eShooooot!\u201c, egal, wo der \u201eHammer\u201c den Ball zugespielt bekommt. 2005 dann der Wechsel nach Stuttgart und der gro\u00dfe Moment: Im Spiel gegen Energie Cottbus f\u00fchrt eine Direktabnahme Hitzlspergers mit Spann und Innenrist zum 2:1; das Tor zum Meistertitel. Der VfB bekommt die Schale und Thomas Champagner in die Augen. Er ist einer der Stuttgarter Helden; seine zweite Karriere bei den Schwaben wird in \u201eMutproben\u201c nur kurz angerissen: Selbstkritisch gibt der geb\u00fcrtige M\u00fcnchner zu, mit dem jetzigen Aufschwung des VfB nichts zu tun zu haben.<\/p>\n

Kaepernick, Ali oder Smith <\/strong><\/h3>\n

Neben einer (fast) chronologischen Erz\u00e4hlung seiner Laufbahn ist der rote Faden des Buches die sozialpolitische Seite des Profifu\u00dfballs: Als Spieler bemerkt Hitzlsperger erstmals bei seinem Wechsel zu Lazio Rom, dass es im Fu\u00dfball nicht immer nur um Sport gehen kann. Damals redet er sich seinen Transfer zu den umstrittenen Biancocelesti <\/em>wegen der sportlichen Perspektive noch sch\u00f6n; heute wei\u00df er: \u201eIch war damals noch nicht so weit, dass ich h\u00e4tte sagen k\u00f6nnen: Wenn ich gegen Antisemitismus und Rassismus bin, kann ich nicht f\u00fcr Lazio spielen.\u201c<\/em> Tats\u00e4chlich passt er nicht zu Romas Stadtrivalen; er ist kein \u201eaggressive leader\u201c und fristet ein einsames Leben im Hotel. W\u00e4hrend er sich mit Intervalll\u00e4ufen fitzuhalten versucht, kreisen seine Gedanken immer mehr um seine Sexualit\u00e4t: \u201eIch ertrug keine Gesellschaft mehr\u201c<\/em>. Das Intermezzo in Rom l\u00e4utet den Abgesang von Hitzlspergers Karriere ein: Er bekommt unkontrollierbare Schwitzanf\u00e4lle, wird nicht mehr ins Nationalteam einberufen. Wenig erfolgreich spielt er noch f\u00fcr West Ham, Wolfsburg und Everton; sein K\u00f6rper streikt oft.<\/p>\n

In \u201eMutproben\u201c rechnet Hitzlsperger mit dem Profifu\u00dfball zwar nicht ab, bezeichnet ihn aber als extreme Variante der Leistungsgesellschaft. Er erz\u00e4hlt von seiner Angst auf dem Platz einen Fehler zu machen. Hass, der fr\u00fcher nur von den Trib\u00fcnen kam, sei heute via Blaulichtbildschirm \u00fcberall verf\u00fcgbar und setze die Kicker noch mehr unter Druck. Dabei sei Mitgef\u00fchl f\u00fcr die Akteure fl\u00fcchtig: \u201eWenn der Ball rollt, gilt Nachsicht nichts mehr.\u201c <\/em>Hitzlsperger r\u00e4t sich von Social Media fernzuhalten, er kritisiert den Fokus auf Profit und nennt das \u201eMund-zu-Gruppenfoto\u201c der deutschen Nationalmannschaft bei der WM-Endrunde in Katar \u201eein kommunikatives Desaster\u201c<\/em>. \u201eHitz\u201c wei\u00df sich gut einzusch\u00e4tzen und bleibt mit seinen Vorstellungen von Zivilcourage im Rahmen: Sportler wie US-Quarterback Kaepernick, Boxlegende Ali oder der afroamerikanische Sprinter Tommie Smith seien Ausnahmeerscheinungen, die ihre sportlichen Ambitionen hinter ihr sozialpolitisches Engagement einreihten. Das k\u00f6nne man nicht von jedem Profi erwarten. \u201eElf Muhammad Alis wird man nie haben, aber die Richtung muss klar sein. Wollen wir etwas tun, wollen wir es zusammentun?\u201c<\/em>, r\u00e4t er in Bezug auf die Geste der DFB-Elf nach dem FIFA-Verbot der One-Love-Armbinde.<\/p>\n

Das Fazit in \u201eMutproben\u201c ist eine Warnung: Der Fu\u00dfball werde aktuell durch \u00d6l-Multis vereinnahmt. Die erfolgreiche Endrunde in Katar w\u00fcrden andere autorit\u00e4re Staaten mit der Behauptung \u201eFu\u00dfball habe mit Politik doch nichts zu tun\u201c gerne kopieren. Der ohnehin dekadente Profifu\u00dfball werde durch den Aufkauf europ\u00e4ischer Spitzenverein durch arabische Milliard\u00e4re noch dekadenter. Zwar st\u00f6\u00dft sich Hitzlsperger nicht am Verhalten eines Cristiano Ronaldos, der mit seinem Wechsel nach Saudi-Arabien nur manifestieren wollte, weiterhin das meiste Geld abzukassieren; schmerzhaft empfand er dagegen, dass Jordan Henderson dem Ruf des schn\u00f6den Mammons folgte, dabei \u201eh\u00e4tte <\/em>[er] \u00fcberall hingehen k\u00f6nnen, England, Europa, USA.\u201c <\/em>F\u00fcr \u201eHitz\u201c ist es eine pers\u00f6nliche Entt\u00e4uschung: Jener \u201eHendo\u201c hatte ihn einst als Gegenspieler bei Sunderland mit seiner Energie verzaubert. Sp\u00e4ter sei Henderson bei Liverpool zum F\u00fchrungsspieler gereift und habe aus eigener Initiative und \u00f6ffentlichkeitswirksam das Thema \u201eDiversity\u201c f\u00fcr sich entdeckt hatte, nur um letztendlich in ein Land zu wechseln, dass Homosexualit\u00e4t mit dem Tod bestraft. Das tat weh. \u201eIch m\u00f6chte glauben, dass man auch im Fu\u00dfballbetrieb ein Mensch bleiben kann, dem nicht alles egal ist.\u201c<\/em>, meint Hitzlsperger.<\/p>\n

Seine pers\u00f6nlichen Helden sind dagegen der walisische Rugbyspieler Gareth Thomas oder Major League Soccer-Profi Robbie Rogers; an ihnen orientierte er sich, als er sein \u201eComing-out\u201c plante. Heute bem\u00fcht er sich wiederum ein Vorbild f\u00fcr andere zu sein; jeder noch so kleinen Anfrage will er nachkommen. So f\u00e4hrt er z.B. in den Religionsunterricht einer Salzburger Schule um mit den Burschen einer bestimmten Klasse ihr antiquiertes Menschenbild zu diskutieren. Kleine Schritte in die richtige Richtung.<\/p>\n

\u201eMutproben\u201c von Thomas Hitzlsperger und Holger Gertz ist 2024 bei Kiepenheuer & Witsch erschienen und kostet in \u00d6sterreich \u20ac\u00a024,50.<\/em><\/p>\n\n","protected":false},"excerpt":{"rendered":"

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