Das Jahr 2002 war für den Weltfußball zweifelsohne ein geschichtsträchtiges. Immerhin fand in diesem erstmals eine WM-Endrunde auf asiatischem Boden statt. Japan und Südkorea... Zeitreise in den Fernen Osten: Eine kurze Geschichte des Ahn Jung-hwan

Das Jahr 2002 war für den Weltfußball zweifelsohne ein geschichtsträchtiges. Immerhin fand in diesem erstmals eine WM-Endrunde auf asiatischem Boden statt. Japan und Südkorea teilten sich in brüderlicher Einigkeit die Ausrichtung des Mega-Events, von Skandalen und Boykott-Aufforderungen der Marke Katar war man damals weit entfernt. Ein Sportler aus einem der Gastgeberländer sollte dabei unverhofft eine Hauptrolle spielen. Eine Hauptrolle, die es Wert scheint, einen genaueren Blick auf seine Geschichte zu werfen.

Der erste Akt – Treffsicherheit und die Geburtsstunde eines noch nicht absehbaren Skandals

Am 27. Jänner des Jahres 1976 erblickte ein gewisser Ahn Jung-hwan in der südkoreanischen Stadt Paju das Licht der Welt. Schenkt man Wikipedia Glauben, so handelt es sich hierbei um eine echte Fußballstadt. Sechs Personen werden in der Rubrik „Söhne und Töchter der Stadt“ genannt, sie alle frönten in unterschiedlichen Funktionen dem runden Leder. So auch der 1,78 Meter messende Ahn Jung-hwan, welcher seine Karriere nach Junioren-Jahren an der Ajou University 1998 in der heimatlichen K-League bei den Daewoo Royals begann. Seine Torquote konnte sich dabei absolut sehen lassen. In 54 Pflichtspielen zwischen 1998 und 2000 traf der Angreifer 27 Mal ins Schwarze, dementsprechend ein Tor in jedem zweiten Einsatz. So wenig zur einfachen Mathematik in Ahns Karriere. Denn in gewisser Weise sollten diese 27 Tore der Anfang dessen sein, was man als schwierige Beziehung Ahns zum europäischen Fußball titulieren könnte.

Im Jahr 2000 sicherte sich die AC Perugia die Dienste des für seine wallende Haarpracht bekannten Stürmers, der sich zu diesem Zeitpunkt bereits Nationalspieler nennen durfte. Am 23. April 1997 hatte er unter Nationaltrainer Bum-kun Cha sein Debüt gegeben. Bei Perugia lief es für Ahn sportlich nicht wirklich nach Wunsch. Fünf Treffer in insgesamt 30 Spielen zwischen 2000 und 2002 zieren seine Vita. Und doch hat der Südkoreaner einen Gutteil seiner Popularität seiner Zeit im Land des mehrfachen Weltmeisters zu verdanken. Als einen von nur zwei Legionären nominierte Starcoach Guus Hiddink Ahn für die Weltmeisterschaft im eigenen Land.

Der zweite Akt – ein Land im Ausnahmezustand

Wie es das Auslosungsprozedere schon damals vorsah, wurden die Gastgeberländer Südkorea und Japan aus Topf eins gezogen. Somit blieben beiden Teams damalige Größen des Weltfußballs wie etwa Deutschland, Brasilien oder England erspart. Während Japan es mit Belgien, Russland und Tunesien zu tun bekam, bescherte Fortuna Südkorea mit Polen, den USA und Portugal eine Gruppe, in welcher man zwar Außenseiter war, sich aber durchaus Chancen ausrechnete. Dennoch waren die Hoffnungen eher gedämpft, immerhin hatte Südkorea bei zuvor fünf WM-Teilnahmen keinen einzigen Sieg erringen können. Diese Serie riss aber bereits am allerersten Gruppenspieltag dank eines 2:0-Erfolgs gegen Polen und war der Beginn einer Euphoriewelle, die selbst vor den Landesgrenzen keinen Halt machte. Der Protagonist unseres Artikels hielt sich dabei noch vornehm zurück. Seinen ersten großen Auftritt hatte Ahn im zweiten Gruppenspiel gegen die USA, als er nach einem vergebenen Elfmeter seiner Mannschaft mit dem Treffer zum 1:1 den vierten Zähler bescherte und damit die Tür in Richtung KO-Phase öffnete. Die schwierigste Prüfung stand der Hiddink-Elf aber noch bevor, wartete an Spieltag drei doch Portugal mit Stars wie Victor Baia, Fernando Couto, Luis Figo oder Nuno Gomes. Aufgrund der Tatsache, dass bei einem Remis beide Mannschaften aufgestiegen wären, wurde schon vor Beginn der Partie ein Nichtangriffspakt der Marke Gijón befürchtet. Der Spielverlauf hielt es an diesem Tag aber mit dem Underdog. Schon nach etwas mehr als 20 Minuten sah Joao Pinto nach überhartem Einsteigen die Rote Karte, sein Teamkollege Paolo Bento folgte nach etwas mehr als einer Stunde. Vier Minuten später versetzte der spätere Manchester-United-Star Ji-sung Park ein ganzes Land mit einem gekonnten Linksschuss und dem gleichbedeutenden 1:0 in Ekstase. Was machte Ahn in dieser Begegnung? Er wurde in der Schlussminute ausgewechselt. Kein Grund zu der Annahme also, dass er im weiteren Turnierverlauf noch eine tragende Rolle einnehmen würde. Notiz am Rande: Portugal schied dank dieser Niederlage sensationell als Gruppendritter aus, sollte aber nicht das letzte Team von großem Kaliber auf Südkoreas Abschussliste bleiben.

Der dritte Akt – ein WM-Achtelfinale als Höhe- und Tiefpunkt einer gesamten Karriere

Auch im ersten WM-KO-Spiel einer südkoreanischen Fußball-Nationalmannschaft überhaupt schienen die Gastgeber ihre aus der Gruppenphase bekannte Schwäche nicht abgelegt zu haben. In der Begegnung mit erneut hoch favorisierten Italienern vergaben die Heimischen bereits nach fünf Spielminuten einen Elfmeter. Tragische Figur dieser Szenerie – Ahn Jung Hwan, dessen Strafstoß von Buffon pariert wurde. Im weiteren Verlauf der Begegnung schien Südkoreas Nummer 19 aber langsam auf Betriebstemperatur zu kommen. Nach feiner Ballannahme zirkelte er den Ball etwa im Laufe der ersten Hälfte nur knapp über das linke Kreuzeck, ein direkter Freistoß strich nur knapp an der rechten Stange vorbei. Gewissermaßen die Ouvertüre für all das, was noch folgen sollte. Auch in Hälfte zwei machte Ahn mit einem ruhenden Ball auf sich aufmerksam, ein weiterer Freistoß ging allerdings knapp über das Tor des Favoriten. Drei Minuten vor Spielende war es dann ausgerechnet ein Abwehrfehler der schon damals als Bollwerk bekannten italienischen Defensive um Paolo Maldini, welcher Ahns Sturmpartner Ki-hyeon Seol – neben Ahn im Übrigen der zweite Europa-Legionär im Kader – die wichtigste Nebenrolle in diesem Drama und Südkorea die Verlängerung bescherte. Für die jungen Leser*innen: Fiel damals ein Tor in der Verlängerung, so war es als Golden Goal bekannt und beendete die Begegnung.

In der ersten Hälfte dieser Verlängerung wurde Italien-Mittelfeldstratege Francesco Totti im Strafraum bedrängt. Totti fiel – und Italien hatte danach nur noch zehn Feldspieler auf dem Platz. Referee Byron Moreno sah eine Schwalbe Tottis, nachdem er ihn in der regulären Spielzeit aufgrund eines Foulspiels bereits verwarnt hatte. In der 116. Minute kam schließlich jener Moment, der Ahns Karriere für immer prägen sollte. Eine Flanke in den Strafraum verarbeitete der Angreifer per Kopf und bezwang Gianluigi Buffon damit zum viel umjubelten 2:1 für Südkorea. Ein Tor, welches, so könnte man meinen, neben Ahns guten Leistungen abseits seiner Treffer jenes zu einer ansprechenden Karriere in Europa öffnen würde. Doch weit gefehlt. Denn was dann geschah, sucht in der Fußballwelt wohl bis heute seinesgleichen. Es war damit zu rechnen, dass sein Arbeitgeber dem Stürmer zu seiner Leistung gratulieren und ihm alles Gute für den weiteren Turnierverlauf wünschen würde. Stattdessen verlieh der damalige Perugia-Präsident Luciano Gaucci Ahn den Titel des „Zerstörers des italienischen Fußballs“, welchen er nicht länger im Kader seines Teams wissen wollte. In der Heimat als Held verehrt, wurde Ahn im Land des mehrfachen Weltmeisters somit zur persona non grata. Während seine Landsleute nach einem 5:3-Erfolg im Elfmeterschießen gegen Spanien – bei welchem Ahn den vierten Elfmeter verwandelte – und einer darauffolgenden Halbfinal-Pleite gegen Deutschland (0:1) sowie einer weiteren Niederlage gegen die Türkei im Spiel um Rang drei (2:3) schlussendlich den vierten Platz feierten, kehrte der Held als ebensolcher in den asiatischen Clubfußball zurück, statt seiner Laufbahn in Europa nachzugehen. Perugia ruderte zwar wenig später zurück, Ahn wollte von einer Zukunft in Italien aber nichts mehr wissen. Stattdessen schienen kurzzeitig sogar weitere nachhaltige Konsequenzen nicht ausgeschlossen. So war es durch einen Beschluss der East Asian Football Federation sogar möglich, Spielern dortiger Verbände ein Auflaufen für italienische Vereine zu verbieten. Ahn Jung Hwan spielte fortan für die Shimizu S-Pulse und die Yokohama Marinos, wo ihm in 72 Spielen immerhin 30 Tore gelangen. Seinem Torriecher hatte der Perugia-Skandal also offenbar keinen Abbruch getan. Es folgten kurze Intermezzi in der Ligue 1 beim FC Metz sowie in Deutschland beim MSV Duisburg. Nach vier Treffern in insgesamt nur 28 Spielen kehrte Ahn zu den Suwon Samsung Bluewings in seine Heimat zurück, das erneut wenig glückliche Ende der angesprochen schwierigen Beziehung zu Fußball-Europa also.

Bei einer Fußball-Weltmeisterschaft machte er noch ein einziges Mal auf sich aufmerksam. In der Gruppenphase des Turniers 2006 in Deutschland drei Mal als Einwechselspieler eingesetzt, erzielte Ahn am 13. Juni 2006 und damit fast auf den Tag genau vier Jahre nach seinem folgenschweren Tor gegen Italien beim 2:1 gegen Togo ein weiteres WM-Tor – sein vorletzter Treffer im Laufe seiner gesamten Nationalmannschafts-Karriere, welche nach der WM 2010 in Südafrika und insgesamt 71 Spielen endete. Im Rahmen dieses Turniers stand Ahn zwar im Kader, kam aber nicht mehr zum Einsatz. Im Jahr 2012 beendete er schlussendlich auch seine Club-Laufbahn.

Der vierte Akt – die Karriere nach der Karriere und „Der Herr der Ringe“

Was hat Peter Jacksons filmisches Meisterwerk mit Ahn Jung Hwan zu tun? In seiner Heimat Südkorea wird der ehemalige Stürmer als „Der Herr der Ringe“ bezeichnet. Der Grund dafür ist ein schöner: Ahn heiratete im Jahr 2001 die ehemalige Miss Korea Lee Hye-won und küsste fortan nach jedem erzielten Tor seinen Ehering, so auch bei seinem Tor gegen Italien. Seinen Heldenstatus hat Ahn bis heute nicht eingebüßt. Stattdessen wird er oft als „südkoreanischer David Beckham“ bezeichnet, arbeitet nebenbei als Modell. Für die Olympischen Winterspiele 2018 in Pyeongchang fungierte er zudem als einer der Fackelläufer, die das Olympische Feuer im Rahmen der Eröffnungsfeier auf den letzten Metern entzünden durften.

In den Jahren 2013 und 2014 wurde Ahn Jung Hwan mit einem südkoreanischen Comedy-Preis ausgezeichnet, so geschehen durch seine Auftritte in den Reality-TV-Shows „Law oft he Jungle in Himalayas“ und „Dad! Where are you going“. Zwischen 2013 und 2022 war der ehemalige Profi in verschiedenen Funktionen innerhalb südkoreanischer TV-Produktionen zu bewundern. Eine durchaus illustre Karriere also, in deren Mittelpunkt jener Juni-Nachmittag des Jahres 2002 steht, der sich in diesem Sommer zum 20. Mal jähren wird.

Julian Berger, abseits.at

Julian Berger