In den 1920ern steckte der deutsche Fußball noch in den Kinderschuhen. Der DFB ist zwar bereits 22 Jahre alt, aber in der Weimarer Republik... 189 Minuten und Wiederholungsspiel – Das Finale der deutschen Fußballmeisterschaft 1922

In den 1920ern steckte der deutsche Fußball noch in den Kinderschuhen. Der DFB ist zwar bereits 22 Jahre alt, aber in der Weimarer Republik war noch keine Spur des Wunders von Bern oder Profifußball. Nichtsdestotrotz gab es bereits zahlreiche, spannende Spiele, die Zehntausende ins Stadion trieben, so auch beim Endspiel um die deutsche Fußballmeisterschaft im Jahre 1922.

Die Teilnehmer

Im Gegensatz zum heute üblichen Ligensystem wurde die Meisterschaft noch im Turniermodus ausgetragen. An der Endrunde 1922 buhlten neben dem Titelverteidiger 1. FC Nürnberg und dem Norddeutschen Meister HSV noch sechs weitere Mannschaften um die Victoria, den Pokal, der zwischen 1903 und 1944 an den deutschen Fußballmeister vergeben wurde. So qualifizierte sich der FC Wacker München als Süddeutscher Meister, die TG Arminia Bielefeld gewann den Titel im Westdeutschen Spiel-Verband, während die SpVgg Leipzig die Mitteldeutsche Meisterschaft gewann und der SV Norden-Nordwest als Brandenburgischer Fußballmeister antrat. Der FC Viktoria Forst, der damals als einer der führenden Clubs im Südostdeutschen Fußball-Verband war, gewann zwar nicht den Titel, aber nahm als Vertreter seines Verbandes teil. Gleiches galt für Titania Stettin vom Baltischen Rasen- und Wintersportverband, der für Nordostdeutschland zuständig war.

Der Weg zum Finale

Da nur acht Vereine mitspielten, begann man sofort im Viertelfinale. Der Hamburger SV überrollte am 21. Mai 1922 die Mannschaft aus Stettin im Stadion an der Hoheluft.

Vor 12.000 Zuschauern steuerte unter anderem der damalige HSV-Star Otto „Tull“ Harder, der nach seiner Fußballkarriere der NSDAP beitrat und zum Kriegsverbrecher wurde, mit zwei Toren zum Endstand von 5:0 bei. Den nächsten fußballerischen Leckerbissen gewährten die Rothosen den Zuschauern am 4. Juni, als man die Herren des FC Wacker München mit 4:0 im Semifinal besiegte. Harder traf auch in diesem Spiel und gesellte sich damit zu den fünf anderen Spielern, die allesamt dreimal den Ball erfolgreich im Tor versenkten. Mit der besten Tordifferenz aller Teilnehmer zog man damit in das Finale, wo der Titelverteidiger 1. FC Nürnberg wartete.

Die Nürnberger waren im Gegensatz zu den anderen Teams nicht von der sportlichen Qualifikation über die Ligen der regionalen Fußballverbände abhängig, sondern durften als amtierender Deutscher Meister automatisch mitspielen. Im Auftaktduell gegen die SpVgg Leipzig gelang Luitpold Popp, der in 18 Jahren sagenhafte 870 Matches im Jersey des 1. FC Nürnberg bestritt und dabei zahlreiche Erfolge einfuhr, binnen fünf Minuten ein Doppelpack. Heinrich Träg, seines Zeichens einer der wichtigsten Spieler des Clubs in dieser Ära, der neben seiner Dynamik auch für sein kurzes Temperament und als Hitzkopf bekannt war, setzte mit dem dritten Treffer Nürnberger Sieg die Krone auf. Das Halbfinale gegen den noch heute existierenden SV Norden-Nordwesten wurde mit 1:0 gewonnen. Willy Böß, ein aufgrund von fehlender Torgefahr als Verbindungsstürmer bezeichneter Offensivakteur, schoss eines der wichtigsten Tore seiner Laufbahn und brachte mit dem einzigen verwandelten Ball in dieser Begegnung seinen Verein in das Finale.

Endspiel Ausgabe 1

Als haushoher Favorit handelte man damals den 1. FC Nürnberg, der in den Jahren zuvor mit den zahlreichen Nationalspielern etliche Titel gewann und sich als einer der erfolgreichsten Vereine im Lande etablierte. Ein kleiner Dämpfer waren die verletzungsbedingten Ausfälle des eleganten Linksaußen Hans Sutor und des Kapitäns und Schlüsselspielers Hans Kalb, dennoch stand einem Nürnberger Sieg wenig im Wege. Geleitet wurde das Finale von Peco Bauwens, der selbst Nationalspieler und später DFB-Präsident war und dessen Rolle zur Zeit des Nationalsozialismus jedoch auch umstritten ist. Im Hamburger Kader galten drei Spieler als Achse des Teams: Der Torhüter Hans Martens war mit einer Größe von zwei Metern der Hüne in der Abwehr, Asbjørn Halvorsen galt als Mittelfeldstratege und ganz vorne sorgte Tull Harder für die Tore. Gemeinsam mit ihnen wollte man einen gegnerischen Erfolg entgegentreten.

Am 18. Juni 1922, vor 30.000 Zusehern in Berlin, sorgte der Hamburger Offensivakteur Hans Rave in der 19. Minute für die Führung der Hanseaten. Doch bereits wenige Momente später glich der Club in Form des durch seine präzisen und kräftigen Abschlüsse bekannten Linksaußen Träg aus. Luitpold Popp sorgte für weitere Glücksgefühle in den Nürnberger Reihen, indem er in der 30. Spielminute für die Führung sorgte. Die Mannschaft von Izidor Kürschner, der in den späten 1930ern und frühen 1940ern viele europäische Trainingselemente nach Brasilien exportierte, führte bis vier Minuten vor Schluss, als Hans Flohr den Ausgleich im Spiel um die Victoria schoss. Da es damals noch keine Regelung bezüglich Verlängerung oder Elfmeterschießen gab, wurde so lange nachgespielt, bis ein Verein die Begegnung für sich entscheiden kann. Das Fußballspiel wurde also fortgesetzt, doch keiner der beiden Mannschaften gelang es, das runde Leder im Netz unterzubringen, manche Spieler wiesen bereits Ermüdungserscheinungen auf und konnten kaum noch laufen. So entschied Schiedsrichter Bauwens dem Leiden ein Ende zu setzen und nach unglaublichen 189 Minuten abzupfeifen, auch wegen der einsetzenden Dunkelheit. Kein Sieger führte jedoch auch zu einem weiteren Finale, in welchem eine endgültige Entscheidung getroffen werden sollte.

Endspiel Ausgabe 2

Sieben Wochen später kamen beide Mannschaften erneut auf einem Fußballfeld zusammen, diesmal vor 50.000 Zuschauern in Leipzig, um einen Gewinner der deutschen Fußballmeisterschaft 1922 auszumachen. Der Unparteiische hieß erneut Peco Bauwens. Nach 18 Minuten musste dieser den Nürnberger Mittelstürmer Willy Böß nach einem Tritt gegen einen am Boden liegenden Gegenspieler des Spielfeldes verweisen. Eine halbe Stunde, kurz nach Wiederanpfiff, fiel der erste Treffer durch Heinrich Träg. Der nächste Rückschlag folgte in Minute 69, als HSV-Spieler Karl Schneider ausglich und damit alles auf Anfang setzte. Im weiteren Spielverlauf verletzte sich der Abwehrspieler des Clubs Anton Kugler schwer, wodurch er nicht mehr weiterspielen konnte. Da das Auswechseln damals noch nicht in den Regeln festgeschrieben stand, verloren die Nürnberger einen weiteren Feldspieler. Erneut musste man in die Verlängerung, in welcher sich Heinrich Träg nicht mehr zusammenreißen konnte. Zuvor fühlte er sich schon von Gegenspielern provoziert, wodurch er den Hamburger Albert Beier „mit aller Kraft in den oberen Rücken, nahe dem Nacken“, so vermerkte es Bauwens im Spielbericht, zu Boden stieß. Dies brachte ihm allerdings auch den Platzverweis ein. Mittlerweile war der 1. FC Nürnberg nur noch zu acht. Nach Abpfiff der ersten Halbzeit in der Verlängerung brach plötzlich Luitpold Popp zusammen. Trotz Behandlung konnte er nicht mehr weiterspielen. Bauwens wies darauf hin, die Begegnung abbrechen zu müssen, sofern der deutsche Nationalspieler wirklich nicht weitermachen konnte. So kam es dann auch. Der Schiedsrichter musste das Spiel abbrechen.

HSV Deutscher Meister, aber doch nicht

In Anbetracht der Fakten entschied der DFB den Hamburger SV zum Deutschen Meister, doch die Nürnberger legten Revision ein. Ihre Argumentation war, dass der Abbruch nicht in der Pause der Verlängerung hätte erfolgen dürfen, sondern während gespielt wurde. Letztendlich votierte man im DFB zwar dafür, dass dem HSV doch der Deutschen Meistertitel von 1922 zuzusprechen ist, doch das Hamburger Vorstandsmitglied Henry Barrelet erklärte, angeblich vom DFB dazu gedrängt, im Namen des HSV den Verzicht auf den Meistertitel. Somit gab es zum zweiten und letzten Mal in der deutschen Fußballgeschichte eine Saison ohne Meister. Die Victoria ging zwei Jahre später jedoch wieder nach Nürnberg, wodurch sich auch dort die Wogen glätteten. Auf der Meisterschale sind beide Finalteilnehmer als Meister 1922 eingraviert.

Die deutsche Fußballmeisterschaft 1922 ist wohl eine der kuriosesten im deutschen Profi-Fußball und zeigt aus heutiger Perspektive, unter welchen ungewöhnlichen Umständen der Fußball vor 100 Jahren gehandhabt wurde.

Tim Bosnjak