Jeden Sonntag wollen wir in dieser Serie Spieler beleuchten, die ungewöhnliche Wege eingeschlagen haben. Wir möchten Geschichten von Sportlern erzählen, deren Karriere entweder im... Men to (re)watch (26) – Lucas Scholl (KW 26)

Jeden Sonntag wollen wir in dieser Serie Spieler beleuchten, die ungewöhnliche Wege eingeschlagen haben. Wir möchten Geschichten von Sportlern erzählen, deren Karriere entweder im Konjunktiv stecken blieb, die sich zu einem gegebenen Zeitpunkt radikal verändert haben oder sonst außergewöhnlich waren und sind: Sei es, dass sie sich nach dem Fußball für ein völlig anderes Leben entschieden haben, schon während ihre Profizeit nicht dem gängigen Kickerklischee entsprachen oder aus unterschiedlichen Gründen ihr Potenzial nicht ausschöpften. Auf jeden Fall wollen wir über (Ex)-Fußballer reden, die es sich lohnt auf dem Radar zu haben oder diese (wieder) in den Fokus rücken. Wir analysieren die Umstände, stellen Fragen und regen zum Nachdenken an. Nummer 26 beschäftigt sich mit einem Fußballer, der einen großen Namen trägt, aber die hohen Erwartungen an ihn bislang nicht erfüllen konnte …

Mehmet Scholl ist bekannt dafür sich kein Blatt vor den Mund zu nehmen; da macht er nicht einmal vor seinem eigenen Sohn Halt: „Ich sage ihm […] offen: ,Du bist ein verhinderter Multi-Millionär. Mit den Fähigkeiten, wie du spielen kannst – und was dann am Ende dabei herauskommt.‘“ Der Adressat dieser Botschaft ist Lucas-Julian; er wird in zwei Tagen 26 Jahre alt, ist selbst bereits Vater und hat bisweilen 74 Regionalligaspiele in den Beinen. Seit dem Ende seines Engagements beim SV Horn im Sommer 2021 ist Scholl junior jedoch auf Vereinssuche. Unglaublich für einen Spieler, der seine gesamte Jugend im Bayernnachwuchs verbrachte, mit technischen Meisterleistungen glänzte und als designierter Nachfolger seines Vaters galt. Letzterer meint, dass der Grund, warum Julian noch nicht als Profi Fuß fassen konnte, nicht nur im physischen Bereich liegt, sondern vorwiegend daran, dass er den mentalen Voraussetzungen des Bundesligafußballs nicht entspricht: Kopfsache. Könnte es auch daran liegen, dass Lucas die Vergleiche mit seinem Vater belastet haben? Während die meisten seiner Teamkollegen nur eine Nummer im Vereinsnachwuchs waren, musste Lucas von Beginn an den imaginären Zweikampf mit seinem „alten Herrn“ aufnehmen.

Als „Kind“ bei den Profis

Lucas sagt, es habe ihn nie gestört, dass alle gewusst hätten, wer sein Vater sei. Stattdessen meint er, seine Karriere als Profifußballer habe nicht richtig gezündet, weil er zu lange im Haifischbecken des FC Bayern mitgeschwommen sei. Rückblickend hätte er bei einem kleineren Verein sein Glück versuchen müssen. Die Konkurrenz in München war für den schlanken Spielmacher erdrückend, obwohl es anfangs rosig aussah: Pep Guardiola zog den damals 17-jährigen von den Amateuren in den Profikader hoch. „Du kannst ein ganz Großer werden. Du musst nur deinen Kopf ändern.“, sagte der damalige FCB-Trainer dem Teenager im Jahr 2014. Das ist jetzt acht Jahre her. Lucas wusste damals nicht, was ihm der Welttrainer damit sagen wollte. Irgendwie weiß er es heute immer noch nicht.

Die Fußballlaufbahn des im Juli 1996 Geborenen begann früh: In einem Münchner Außenbezirk beim TSV Waldtrudering trat Mehmets Erstgeborener erstmals vereinsmäßig gegen den Ball. Bei einem Match sprach ein Scout des FC Bayern die Mutter des damals 7-jährigen an, ohne zu wissen, dass es sich um die Ex‑Frau des 334-fachen FCB-Profis handelte. Lucas stieg 2003 in die U 8 der Roten ein, während sein Vater für die Kampfmannschaft kickte. Jene (vereinzelten) Stimmen, die meinten, der schlaksige Bub mit den dunklen Haaren habe den Platz im Team seinem Vater zu verdanken, verstummten schnell, denn Lucas Entwicklung hatte beinahe über seine gesamten 13 Jahre an der Säbener Straße Konjunktur: Schon früh ließ sich seine fantastische Technik erkennen, außerdem war er kreativ und ein Spielgestalter mit hervorragender Antizipation. „Keiner schießt in der Regionalliga bessere Freistöße als ich.“, sagte er noch vor zwei Jahren. Seine Jugendtrainer vertrauten ihm, obwohl der zarte Dribbler seinen Altersgenossen körperlich meist hinterherhinkte.

Zeitweise wurde der Mittelfeldspieler von seinem eigenen Vater ausgebildet, der Lucas Spielzeit in der U 13 als seine beste Saison bezeichnete. Seine überragenden Leistungen bei den Unter-19-jährigen führten aber am Ende dazu, dass er plötzlich mit der Kampfmannschaft trainieren durfte. „Da sagt man als junger Spieler nicht nein. Eine solche Chance nutzt man.“, erinnert er sich. Letzteres passierte jedoch nicht. Für den damals 17-jährigen erwies sich die Versetzung zu Robben, Ribéry und Co. als Kulturschock. Der Fußball der Bayern-Kampfmannschaft war wie eine neue Sportart für Lucas Scholl; mit Tempo, Taktik und Körperlichkeit konnte der Teenager nicht mithalten. Das Resultat: Er durfte nur bei den „Großen“ trainieren, spielte aber in der U 19 oder in der zweiten Mannschaft. Während die Öffentlichkeit auf seinen Durchbruch wartete, begannen seine Leistungen zu stagnieren: Scholl stand dem hilflos gegenüber. Jahre später betrachtete der Spieler seine Einstellung kritisch: „Ich habe die Fehler nie bei mir gesucht. Schuld waren immer die anderen: die Trainer, die Mitspieler, der Ball, der Platz. Wenn ein Pass nicht angekommen ist, ist der Spieler falsch gelaufen.“

Diva im Verletzungsteufelskreis

Lucas war frustriert: Wer mit Welttorhüter Neuer in der Kabine sitzt, will sich nicht von einem mittelmäßigen Kicker von Schweinfurt 05 kaputttreten lassen. Bei seinen Einsätzen konnte er nicht mehr befreit aufspielen: „Ich hatte das Gefühl regelmäßig drei Tore machen zu müssen. Das war eindeutig zu viel Druck für mich. Das hat mich fertig gemacht.“ Dazu kam, dass er nicht die Attitüde eines Profis an den Tag legte: Regeneration, Ernährung oder Freizeitgestaltung entsprachen nicht dem asketischen Lebenswandel eines Athleten.

Lucas Scholl entschied sich schließlich für einen Tapetenwechsel: Er trainierte zwar probeweise beim FC Luzern mit, ging dann aber in die vierte Liga zu Wacker Nordhausen. Eine Hals-über-Kopf-Entscheidung, die ihn nicht auf die Bundesligalaufbahn hievte, sondern ihn nur dem Verletzungsteufel anheimfallen ließ: Scholl bekam eine schwere Lungenentzündung („Ich war nach einem Zehn-Minuten-Spaziergang tot.“) und zog sich einen Knochenbruch im Fuß, der ihn ein halbes Jahr kostete, zu. Anschließend machte er beim VfR Garching in der bayerischen Regionalliga nur mehr ein Spiel, ehe die COVID-19-Pandemie die Saison unterbrach. Im Sommer 2020 heuerte der Offensivkicker beim SV Horn an. „Ich bin lange unter dem Radar gelaufen. Aber ich weiß, dass ich das Zeug habe, um höher zu spielen.“, sagte er bei seiner Vorstellung.

Klar ist, Scholl hat fußballerische Klasse; das hat ihm ja auch der Herr Papa zugestanden. Nur lässt er sie viel zu selten aufblitzen: Bei Garching erzielte er beispielsweise mit einem Freistoß von der Strafraumgrenze ein wunderschönes Tor aus spitzem Winkel und auch im Waldviertel gelangen ihm phasenweise geniale Momente als Spielgestalter. Im April 2021 stellte ihn sein Arbeitgeber jedoch frei, weil er sich weigerte den Vertrag zu verlängern. Lucas Scholl ist seitdem vereinslos und hält sich bei der SpVgg Unterhaching fit. Ein Probetraining bei Austria Klagenfurt scheiterte: Man sei auf seiner Position gut besetzt lautete die eindeutige Antwort – will sagen: Ein Durchschnittskicker mit der richtigen Einstellung ist eben besser zu gebrauchen als eine launische Diva, die zwar ein feines Füßchen hat, aber oft körper- oder lustlos agiert.

Alles hat seinen tieferen Sinn.“, meinte der Offensivspieler vor zwei Jahren. Vater Mehmet dagegen glaubt zu wissen, wo der Hund begraben liegt: Er geht zu der – aus seiner Sicht – besten Saison von Lucas zurück; nach welcher sein damals zwölf-, dreizehnjähriger Sohn charakterliche Einbußen hingenommen habe: „Die Erziehung hat aufgehört. Die Erziehung zum Erfolg, zur Qual, die Erziehung, es unbedingt schaffen zu wollen. Wir wissen alle, was es braucht, um oben anzukommen. Das muss anerzogen werden. Und das ist nicht passiert. Er sucht einen anderen Weg – dann bin ich ausgestiegen.“ Sein eigenes Kind hätte nicht auf ihn gehört, habe kein Bayern-Gen eingepflanzt bekommen, keine Selbstkritik, nicht den Willen sich zu überwinden – so lautet das knallharte Urteil des 36-fachen DFB-Teamspielers. „Unser Verhältnis ist okay.“, sagte der Ex-Profi in demselben Interview. Das ist die Hauptsache und außerdem: Auch Mehmet hat nicht alles erreicht; so ist Scholl senior zwar Europameister, nahm aber nie an einer WM-Endrunde teil.

Marie Samstag, abseits.at

Marie Samstag