Sich selbst treu zu bleiben heißt nicht, dass man seine Meinung nicht ändern darf. Trotzdem ist es immer wieder schmerzhaft, wenn einem sozusagen die... Buchrezension: Der Fall Özil

Sich selbst treu zu bleiben heißt nicht, dass man seine Meinung nicht ändern darf. Trotzdem ist es immer wieder schmerzhaft, wenn einem sozusagen die Nase in den eigenen Mist gerammt wird. Gut, so schlimm war es in disem Fall nicht, aber als ich „Der Fall Özil – Über ein Foto, Rassismus und das deutsche WM-Aus“ von Dietrich Schulze-Marmeling las, erinnerte ich mich doch zwangsläufig an jenen Artikel, den ich einst selbst im Eifer des Gefechtes zu diesem Thema verfasst hatte. Damals sprang ich auf jenen Zug auf, auf dem viele einhellig keiften: „Wie kann man sich nur mit einem Diktator fotografieren lassen?!“, ohne so intensiv nachzudenken, wie es vielleicht von nöten gewesen wäre.

In seinem Buch über das verhängnisvolle Foto, das vo circa einem Jahr erschien, versucht der Autor viele Bereiche abzudecken: Er zitiert viel, analysiert selbst aber (zu) wenig. Material ist in Hülle und Fülle vorhanden und seine Vorsätze scheinen ehrbar gewesen zu sein. Doch Erleuchtung bietet das Buch wenig: Naja, mir wurde zumindestens klar, dass ich damals auch zu wenig analysiert habe.

Schulze-Marmeling steckt langsam die Füße ins Wasser, indem er zunächst allgemein über Einwanderung und Integration im deutschen Fußball sowie über Özils Anfänge parliert. Tatsächlich dürften viele, die später eine besonders gefestigte Meinung hatten, vergessen haben, dass die Debatte um den heute 30-jährigen Profi schon viel früher losging: Der Enkel türkischer Einwanderer gab am 12. August 2009 sein Debüt im deutschen A-Nationalteam und löste damit nicht nur in seiner eigenen Familie heiße Diskussionen aus. Viele türkische Fans nahmen ihm seine Pro-Deutschland-Entscheidung derart übel, dass der Mittelfeldspieler seine Homepage kurzfristig vom Netz nehmen lassen musste. Mutter und Onkel hätten – im Gegensatz zum Herrn Papa –  Mesut ebenfalls lieber im Trikot mit dem roten Halbmond gesehen, doch für den Fußballer selbst war die Sache von Anfang an klar: Er wollte für das Land, indem er geboren war, spielen und beendete seine Rechtfertigung mit den erwachsenen Worten: „Warum denken wir immer so in Grenzen? Ich will als Fußballer gemessen werden  – und Fußball ist international. Das hat nichts mit den Wurzeln meiner Familie zu tun.“                                                                                          Ganz Fußballdeutschland schaute dem in Gelsenkirchen Geborenen begeistert auf die Füße. Er galt im Land der Dazwischenhauer und Grätscher als technischer Wunderwutzi und als einer, der nicht gern auffiel. Letzteres führte dazu, dass er keine positiven Schlagezeilen auslöste, wenn die Ergebnisse nicht passten: Özil erntete Kritik aufgrund seiner Körpersprache und seines mangelnden Zweikampfverhaltens. Doch in der Prä-Erdogan-Foto-Zeit kamen rassistische Kommentare unverhohlen nur aus der ganz rechten Ecke und von gegnerischen Fans, deren Abwehren der Kicker schwindlig gespielt hatte. 2014 wurde Mesut Özil gemeinsam mit sechs weiteren „Migrantenkindern“ in Brasilien Weltmeister. Er hatte zuvor beim FC Arsenal unterschrieben. İlkay Gündogan, der zweite Protagonist, wurde 2016 von Pep Guardiolas Manchester City verpflichtet.

Photo Finish

Dietrich Schulze-Marmeling zitiert als Resümee seiner Abhandlung den Politikwissenschaftler Mahir Tokatli, der der Ansicht ist, es sei bei der ganzen Debatte stets nur vorrangig um das Foto mit einem autokratischen Präsidenten gegangen: „Die brachiale, schrankenlose Kritik […] habe ihm [Anmerkung: Özil] den Stolz auf das Trikot der deutsche Nationalmannschaft vermiest.“[…] Viele Deutsche mit ausländischen Wurzeln werden die Ausgrenzung nachempfinden und sich bestätigt sehen, das sie nicht dazugehören.“ Das Problem liegt also viel tiefer.

Eigentlich ist die chose ein Würfel, der von jeder Seite betrachtet eine richtige aber eben eindimensionale Wirklichkeit widerspiegelt. Schulze-Marmeling ortet erste Probleme schon darin, dass Fußballer Probleme im Umgang mit Politikern haben: „Sei es, weil sie die Diktatoren, Autokraten und „Korrumpels“ nur als Freunde, Föderer des Spieles sehen; sei es, weil die Politik für sie ein komplett fremdes Feld ist, auf dem ihre Urteilsfähigkeit stark eingeschränkt ist.“ Die gesamte Debatte war durch den schäbigen Rahmen der FIFA und der Bigotterie von Altstars oder deutschen Provinzpolitikern, die selbst gerne mit Moralischverwerflichen anbandeln, von Anfang an vergiftet. Ilker Gündogan, der Bruder des anderen „Missetäters“, beschäftigte sich indirekt sogar in einem Essay mit dem fatalen Foto: Er kritisiert in „Botschafter wider Willen? Fußballer im Kontakt mit Politikern“ die Doppelmoral der Gesellschaft, die die Spieler einerseits als verwöhnte Millionäre geißelt, andererseits aber versucht moralische Instanzen aus ihnen zu machen.

Was wirklich die Intention der beiden Kicker war, weiß niemand. Waren es finanzielle Interessen, ein schlechter Berater oder wirklich Naivität? Selbst Schulze-Marmeling maßt sich kein Urteil an, er sammelt sämtliche Stimmen und betätigt sich als Chronist: Er schießt gegen die Stammtischpoltereien eines Mario Basler oder Stefan Effenbergs, liefert aber keinen wirklichen Gegenentwurf um deren (wenige) Argumente zu entkräften,

Spannendster Teil des Buches ist die Analyse des DFB-Teams im Zeitraum 2014 bis 2018: Für den Experten waren die Deutschen 2018 in der Breite besser aufgestellt, als vier Jahre vorher in Brasilien. Individiuelle Weltklasse hingegen war zu wenig vorhanden, „2014 wurde Deutschland verdient Weltmeister. Aber ein Durchmarsch war es nicht.“, lautet Schulze-Marmelings sachliches Fazit. Das Überschätzen des Triumphes von Rio sollte noch weitreichende Folgen haben: Deutsche Vereine scheiterten früh bei internationalen Turnieren, Trainer wie Guardiola oder Klopp verließen die Bundesliga. In Russland spielte man anschließend schlecht, aber nicht so schlecht, wie es viele unserer Lieblingsnachbarn sahen. Angriffsvarianten und Schwierigkeiten gegen tiefstehende Gegner hatte der Teamchef schon zuvor als Probleme ausgemacht. Dennoch ist ihm vorzuwerfen, daran gescheitert zu sein, seine Mannschaft flexibler zu machen. Der Sündenbock, zu dem Mesut Özil gemacht wurde, war er aber sicher nicht. Das beweisen sämtliche Statistiken und Experten ohne Schaum vorm Mund. Özils Fußballspiel ist klarerweise nicht besser geworden. Schulze-Marmeling:„Die Erdogan-Affäre hatte Özils und vor allem Gündogans Leistungsvermögen beeinträchtigt.“ Da sind sich wohl alle einig. Man darf gespannt sein, wie es weitergehen wird.

Marie Samstag, abseits.at

Marie Samstag

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