Kürzlich habe ich in einer Runde wieder einmal meinen Senf zum Thema Talent dazugegeben. Ich bin nicht der Meinung, dass Talent überschätzt wird, wohl... Buchrezension | Sebastian Deisler – Zurück ins Leben (1/2)

Kürzlich habe ich in einer Runde wieder einmal meinen Senf zum Thema Talent dazugegeben. Ich bin nicht der Meinung, dass Talent überschätzt wird, wohl aber, dass Lebensläufe begabter Menschen oft zu optimistisch vorausgesagt werden. Für jemanden, der sich seit seiner Kindheit mit Fußball beschäftigt, war es irgendwann zu hinterfragen, warum es sogenannte „unglaubliche“ Talente nicht einmal in A-Mannschaften von Regionalligisten geschafft haben. Später machte mich die Lektüre von Lebensläufen ehemaliger U-Irgendwas-Nationalspieler stutzig und ich fragte mich, warum bei dem einen oder anderen der Durchbruch gänzlich ausblieb. Die Antwort: Keine Entwicklung verläuft gradlinig. Nur weil ein 12-Jähriger auf dem Niveau eines 14-Jährigen kicken, malen, rechnen oder ähnliches kann, muss das nicht bedeuten, dass er im biologischen Alter von 14, 16, 18, etc. anderen immer noch voraus ist. Viele bleiben in ihrer Entwicklung ohne Fremdeinwirkung einfach stehen. „Ich glaube auch, dass im Spitzensport die soziale Komponente unterschätzt wird.“, meinte eine aus der Runde, in der ich meine „Weisheiten“ losließ. Ich stimmte zu – ich bin ja auch dieser Meinung – doch gleichzeitig ärgerte ich mich, dass der nucleus meiner Aussage wieder einmal nicht verstanden worden war.

Sebastian Deisler ist hauptsächlich am sozialen Moment gescheitert. Der einstige Heilsbringer des deutschen Fußballs beendete heute vor 11 Jahren, nur wenige Tage nach seinem 27. Geburtstag, seine aktive Karriere. Deisler – ein begnadeter Fußballer, der mit dem Fußballgeschäft nicht zurechtkam. Einer, der alles am Platz konnte und im Leben wenig – um ein berühmtes Romy-Schneider-Zitat umzuformulieren.

Gentlement‘s Agreement

Wenn ich mich an Sebastian Deisler, den Fußballer, zurückerinnere, fällt mir als erstes ein Interview in der Zeitschrift Bravo-Sport (!) ein. Damals begrüßte der Redakteur Basti-Fantasti mit der Frage: „Hand aufs Herz: Wann gehst du zu Bayern?“ Ich sehe mich noch heute als Vorpubertäre mit dem Heft dasitzen, an Deislers Antwort auf diese unverblümt gestellte Frage, kann ich mich allerdings nicht mehr erinnern. Wer Michael Rosentritts Buch „Zurück ins Leben – Die Geschichte eines Fußballspielers“ liest, weiß aber, dass der Mittelfeldspieler damals schon heimlich bei den Roten aus München unterschrieben hatte, aber auf Geheiß seines aktuellen Vereins, der Berliner Hertha, Stillschweigen bewahren musste. Dieses „Schweigegelübte“ war der Anfang vom Ende für die sportliche Karriere des Lörrachers: „Am 17.7. kamen die 20 Millionen aufs Konto“, titelt die Sport-Bild am 10. Oktober 2006 und berichtet, dass Bayern Deisler millionenschweres Handgeld für einen Wechsel überwiesen hat. Dementi der beiden Vereine nützen nichts mehr. Zwei Tage später erscheint das Faksimile des Schecks auf den Titelblättern und die Katze ist aus dem Sack: Sebastian Deisler will sich beweisen, spielt am Nachmittag für Berlin gegen Hamburg und verletzt sich zum ersten Mal in seiner Laufbahn schwer. Als er in den USA operiert wird, kocht der Boulevard fast über: Die Steuerfahndung streckt ihre Fühler nach ihm aus, das DFB-Gericht holt Erkundigungen ein, für die Berliner Fans wird Deisler zum Judas und Sündenbock.

Erst 2003 bestätigt Dieter Hoeneß in einem Interview, dass er von Deislers beabsichtigten Wechsel tatsächlich schon im Sommer gewusst hätte. Stillschweigen habe er nur bewahren wollen um den Burschen vor Schmähungen durch die eigenen Fans zu schützen. Der jüngere Bruder von Bayern-Zampano Uli streitet jedoch bis heute ab, dass ihm das gezahlte Handgeld bekannt gewesen wäre. Sebastian Deisler ärgert sich immer noch darüber. Schon damals war er zu verbittert um eine Gegendarstellung öffentlich oder privat zu verlautbaren. „Was hätte es geändert?“, fragt er Michael Rosentritt während eines ihrer langen Gespräche: „Ich hatte wirklich Angst, man würde mich ganz zerreißen. Es lagen doch mehrfach Drohungen in meinem Briefkasten, schlimme Drohungen. Nein, wenn dann hätte Hoeneß es [Anmerkung: die Sache richtigstellen] tun müssen. Der unterließ es aber. Das ist die größte Enttäuschung meines Lebens.“ In einem Interview mit der Zeit wird Deisler wenige Wochen nachdem er das letzte Gespräch für dieses Buch geführt hat sagen, dass er damals aufhören hätte müssen. Doch es schien keinen Weg zurückzugeben: „Ich hatte alles auf die Karte Fußball gesetzt, weil ich das am besten konnte […]. […] Ich kam mir vor, wie ein falscher Fußballer.“

Genie am Ball

Irgendjemand hat einmal gesagt, dass die Kindheit der Schlüssel ist um die Persönlichkeit eines jeden Menschen zu erklären. Sebastian Deisler kommt dort zur Welt, wo man meinen könnte, dass sich ein Genie ruhig entwickeln kann: Im beschaulichen Lörrach, das zwar zu Deutschland gehört, aber nahe beim französischen Mulhouse und noch näher bei Basel liegt. Dort ist das Klima fast mediterran, die Umgebung voller bewaldeter, sanfter Hügel. Mittendrin lebt eine Familie mit einer zweieinhalbjährigen Tochter: Kilian Deisler arbeitet als Kunststoffschlosser, Gabriele ist Hausfrau. Am 5. Jänner 1980 kommt ihr zweites Kind Sebastian zur Welt. Materiell sind die Verhältnisse karg, aber in diesem 45.000-Seelen-Städtchen am Schwarzwald, geht es selbst in den schlechteren Gegenden nicht wie in der Bronx zu. Die Familie lebt in einem schmucklosen, dreistöckigen Wohnhaus in der Nähe von Gewerbeparks und kommt über die Runde. Man ist stolz, zweimal im Jahr auf Urlaub fahren zu können, ansonsten gibt es wenig Luxus. Sebastian wird erst mit 12 Jahren, als er schon in der südbadischen Auswahl spielt, eigene Fußballschuhe besitzen. 2,50 D-Mark legt der Vater am Flohmarkt dafür hin.

Die Zusammensetzung seines Talents kann man aus genetischer Vorbelastung, Umwelt und Förderung errechnen: Opa Karl kickte in den 50ern als Profi im französischen Straßburg. Seit Sebastian als Zweijähriger einen Ball bekommen hat, spielt er zwischen den Klopfstangen im Hof, muss sich gegen Ältere behaupten und lernen den Ball auf engstem Raum zu kontrollieren. Vater Kilian ist der Förderer schlechthin: Er trainiert Sebastian ab seinem fünften Lebensjahr in der E-Jugend des FV Tumringen, einem Lörracher Klub mit moderner Homepage. Jeder erkennt, dass der „Baschdi“, wie man ihn ruft, ein Wunderkind ist.

Kilian spielt nach Einbruch der Dunkelheit mit seinem Junior sogar am Gang ihres Wohnhauses. In den Ferien erforscht er mit ihm wandernd die Umgebung. „Der Basti ist vor den Spielen viel zu nervös, wie ein Rennpferd in der Box.“, sagt Kilian und so fahren die Beiden mit den Fahrrädern zu den Spielen, damit der Bub seine überschüssige Energie loswird. Der TuS Stetten ist Sebastian Deislers erste richtige Jugendstation. Als Kilian Deisler nach einem Herzinfarkt mit 39 Jahren frühpensioniert wird, kümmert er sich gänzlich um die Förderung des Jungkickers. Irgendwie schmerzt es den Sohn heute noch, dass er die Träume des Vaters nicht verwirklichen konnte. Bei einem Besuch in Lörrach bittet er ihn ein Zimmer voller Fußballtrikots und Erinnerungen an seine kurze Laufbahn umzudekorieren. Der Schmerz ist groß.

Mit elf Jahren – als Sebastian beim FV Lörrach spielt – schießt er in einer Saison 100 Tore. Es gibt keinen Besseren: Nicht in Lörrach, nicht im Umkreis und nirgendwo sonst. Jetzt, wo ihn Reisen schon quer durch die Bundesrepublik führen, bleibt er der Star jedes Fußballturniers: „Ich war immer schneller, freier, kreativer und schoss mehr Tore.“, erzählt Deisler im Rückblick. Nach einem Jahr beim FV flattert endlich der ersehnte Brief ins Haus: Absender: DFB. Fußballtechnisch bricht eine neue Zeitrechnung an und auch zuhause gibt es – wenn auch unschöne – Veränderungen: Die Ehe der Eltern ist am Ende. Streit, zugeschlagene Türen, bedrohliches Schweigen. Gabriele und Kilian wollen zusammenbleiben, bis die Kinder aus dem Haus sind. Dem sensiblen Sohn macht dieser Zustand jedoch Kummer. Auch die Beziehung zu den Freunden aus der Nachbarschaft verändert sich. Eifersucht macht sich breit. Der Kleine, der ihnen immer die Kugel abluchst, ist jetzt DFB-Nachwuchsspieler. Es hagelt Häme und Neid: „Die Entwicklung in meinem Elternhaus und das Verhalten meiner damaligen Freunde mir gegenüber hat mich tief getroffen und bitter enttäuscht.“ Michael Rosentritt sieht hier die Ursachen für Sebastians spätere Depression: „Als seine damaligen Freunde ihm gegenüber ein für ihn nicht mehr tolerierbares Maß überschritten hatten, prägte sich bei Sebastian eine gewisse Empfindlichkeit aus. Nicht selten führt eine solche Akzentuierung zu einer Trübung des Urteilsvermögens und zu Missdeutungen der Umwelt und der Mitmenschen […].“ Sportlich wird er jedoch in die Stratosphäre katapultiert: Als 15-Jähriger sticht er dem damaligen Mönchengladbacher Jugend-Cheftrainer Norbert Meier ins Auge. Dein Bub ist ein Ausnahmespieler, weil er ständig Spaß am Spielen hat, sagt dieser dem stolzen Vater und unterbreitet rasch ein verlockendes Angebot: Jugendspieler bei M’gladbach. Gabriele Deisler ist nicht allzu begeistert, doch Sebastian hat mit seinem Leben in Lörrach schon abgeschlossen. Sein Familienleben und der Freundeskreis haben sich aufgelöst. Jetzt will er alles auf eine Karte setzen: Fußballprofi werden.

Anfangs ist es hart: Deisler ist ein halbes Kind, das über 500 km von den Eltern entfernt lebt. Norbert Meier liegt ihm in den Ohren: „Beiß dich durch.“ Er ist begeistert vom Talent des schmächtigen Knaben, der nicht nur überall der Begabteste, sondern auch überall der Kleinste ist. Als das Buch geschrieben wird, erinnert sich der Ex-FCK-Trainer jedoch nicht an Sebastians fußballerische Qualitäten, sondern sagt: „Ich wünsche ihm sehr, dass er glücklich wird. Er hat es wirklich verdient.“ In eine Gemeinschaft passt ein Genie oft nicht. Deisler verfügt nicht nur über unglaubliche Fähigkeiten, er ist auch sensibel und feinempfindend. Als ihn die Mitspieler anfangen ihn wegen seiner Größe zu hänseln, verschließt er sich und konzentriert sich nur aufs Spielen. Er möchte seinen Seelenfrieden durch gute Leistungen finden, allen zeigen, dass er es alleine ganz nach oben schaffen kann. Er durchfliegt die Altersstufen, spielt in der A-Jugend und bei den Amateuren. Probleme mit der Kondition hat er nicht – dank Papas Ausflügen und Radtouren – , Spielfreude hat Deisler sowieso immer. Der Kicker schreibt noch vor seinem ersten Bundesligaspiel: „Ein mit unersättlichem Spieltrieb, überragender Technik, präzisem Schuss und einem nicht erlernbaren Blick für die Situationen und Mitspieler gesegneter Fußballer.“ Der ersehnte Profivertrag ist also nur eine Frage der Zeit. Mit 18 Jahren unterschreibt Sebastian und kauft den Eltern vom ersten Jahresgehalt eine Eigentumswohnung – verbunden mit der kindlichen Hoffnung, sie würden so wieder zueinanderfinden.

Beckham an der Spree

Michael Rosentritt hat Sebastian Deisler mehrere Monate lang viele Male in Berlin getroffen. Es war der Wunsch des Ex-Profis ein Buch mit dem prophetischen Titel „Zurück ins Leben“ zu schreiben. Am Ende wird Deisler sagen, dass er gern ein anderes Buch mit dem Sportjournalisten verfasst hätte. Die Gespräche der Beiden sind in die Handlung eingeflochten. Es sind Unterhaltungen voller Bitterkeit, in denen sich der Lörracher immer wieder emotional nackig macht.

1999 wird Deisler ein zweites Mal geboren. Der hochbegabte Fußballer stellt sich mit einem wunderschönen Weitschuss gegen den TSV München der deutschen Öffentlichkeit vor. Friedel Rausch sagt: „Man sollte vorsichtig mit dem Begriff Genie sein, aber Deisler ist eines.“ Er misst nach einem gewaltigen Wachstumsschub nun durchschnittliche 1,80 Meter und ist ein begehrter Jungprofi.

Als Gladbach absteigt, lässt sein Berater Pflippen über die Medien ausrichten, dass er sich seinen Wunderknaben sicher nicht in der zweiten Liga kaputttreten lasse. 26 Vereine legen Angebote vor, darunter Real Madrid, Leverkusen, der AC Milan und natürlich Bayern. Dieter Hoeneß und der damalige Hertha-Trainer Jürgen Röber bemühen sich allerdings besonders um die Dienste des Offensivspielers. Hoeneß hat sich vorab erkundigt, dass der Bursche nicht nur ein hervorragender Fußballer, sondern auch ein feinfühliger Zeitgenosse ist: Eine Stadtrundfahrt und ein kumpelhaftes Zusammensitzen überzeugen Basti. Während Deisler nach Berlin übersiedelt, trennen sich seine Eltern endgültig: Die Mutter zieht aus der Eigentumswohnung aus.

Eine Flanke ist keine Flanke: Der Ball muss mit Spin und Tempo auf den Kopf des Angreifers gespielt werden. Deisler beherrscht solche Dinge mühelos, das kann damals außer ihm nur David Beckham. Wie der Engländer wird Deisler als Popstar behandelt. Er wird in die Nationalmannschaft einberufen, täglich gibt es 30 Presseanfragen. Doch der ungeschliffene Twen kommt nicht mal im Entferntesten zur Ruhe: Diskobesuche oder nur normales Einkaufen sind undenkbar. Der Mittelfeldspieler verkraftet den Rummel, der um ihn veranstaltet wird, nicht mehr, sein Körper beginnt zu streiken. Alleine im Herbst 1999 erleidet er einen Muskelfaserriss, eine Adduktorenzerrung, einen Meniskusschaden und eine Innenbanddehnung. Erstmals fliegt er nach Vail/USA, das vielen heute als Wintersportort bekannt ist, um sich von Kniespezialist Steadman operieren zu lassen.

Wenn Deisler über die Zeit in Berlin erzählt, klingt reiner Zorn durch seine Worte: „Ich sollte leuchten, ich sollte strahlen und alle haben sich in meinen Schein gestellt. Hertha, die Sponsoren, der deutsche Fußball, die Fans.“ Er selbst sei schuldlos, aber jung und dumm gewesen: „Lob verführt und verführe auch mich. Ich wollte schon der Held sein, den die anderen in mir sahen.“

Im Februar 2001 geht Basti in die Offensive. Er lässt Journalisten ausrichten: „Ich bin kein Kunstprodukt. Ich bin der Sebastian Deisler.“ Kein Beckham oder Harry Potter von der Spree, kein Wunderbubi möchte er sein. Einen Monat später bietet ihn Rudi Völler erstmals als Spielmacher im deutschen Trikot auf. Deisler bedankt sich artig mit einem 25-Meter-Weitschusstor in der 50. Minute. „Gallig und genial“, tauft die FAZ die Spielweise des Baden-Württembergers. Phasenweise läuft es nun tatsächlich gut. Sebastian glaubt mit Einfachheit erfolgreich sein zu können: „Das hat mir gereicht, ja, ein gutes Spiel und die zufriedenen Menschen. Ich konnte in der Mitte spielen […]. Anschließend bin ich Tomate mit Mozzarella essen gegangen, mehr brauchte ich nicht.“

Ganz Deutschland ist sich sicher, dass dem Burschen die Zukunft gehört. Als Spielmacher wird er bis zur WM 2010, 2014 oder sogar 2018 die DFB-Elf anführen. Niemand weiß aber, welche Seelenpein den jungen Mann plagt. Die Parallelwelt bröckelt. Irgendwann können ihn gute Spiele nicht mehr über den Tag retten. Designer-Jeans im Kasten, der Mercedes vor der Tür – alles was Fußballprofis so haben macht ihn nicht glücklich.

Die Medien haben davon jedoch keinen blassen Schimmer und denken nur an die Karriere. Experten posaunen heraus, dass Deislers nächster Schritt wohl zu Bayern München führen wird.

Morgen folgt Teil 2

Marie Samstag, abseits.at

Marie Samstag

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