Personell betrachtet durfte man den Beginn der letzten Saison im Süden Englands getrost als gebraucht bezeichnen. Coach Graham Potter und Sportdirektor Paul Winstanley verabschiedeten... Brighton & Hove Albion – Das Überraschungsteam der Premier League

Personell betrachtet durfte man den Beginn der letzten Saison im Süden Englands getrost als gebraucht bezeichnen. Coach Graham Potter und Sportdirektor Paul Winstanley verabschiedeten sich ebenso wie Marc Cucurella gen FC Chelsea, Yves Bissouma schloss sich den Tottenham Hotspurs an, Enock Mwepu musste auf Grund von Herzproblemen seine Karriere beenden. Was als Pleiten, Pech und Pannen-Saison begann, sollte die erfolgreichste der Vereinsgeschichte werden. Welche Erfolgsfaktoren dahinter stehen und was die neue Saison bringen kann, erfahren Sie in diesem Artikel.

Erfolgsfaktor 1: Roberto de Zerbi

De Zerbi, am 18.9.2023 als Nachfolger von Graham Potter bei den Seagulls installiert, musste zu Beginn seiner Amtszeit eine Durststrecke von fünf Spielen ohne Sieg hinnehmen. Erst gegen den FC Chelsea gelang am 29.10.2023 der erste Sieg und damit der Befreiungsschlag. Bis zu diesem Spiel hatte es bereits heftig rumort im Amex und die ersten Rufe nach einem Trainerwechsel waren laut geworden. Was nach diesem Sieg folgte, waren 13 Siege, 7 Unentschieden und 11 Niederlagen in der Premier League sowie Platz 6 in der Tabelle, der die direkte Qualifikation für die Europa League zur Folge hat.

Dass es eine Zeit brauchte, bis der erste Dreier angeschrieben wurde, lag auf der Hand. De Zerbi krempelte sein Team taktisch komplett um und der Wechsel von der sehr defensiven, auf Konter ausgelegten Taktik unter Potter, hin zu einem offensiven Pressing unter de Zerbi, bei dem man den Gegner schon sehr früh in der eigenen Hälfte unter Druck setzt und diesen gar nicht ins Spiel kommen lässt, stellte für die Spieler einen völligen Paradigmenwechsel dar. Nicht nur physisch, auch psychisch verlangte der Systemwechsel den Spielern einiges ab. Von einer der besten Defensiven der Liga erfolgte eine Transformation hin zu einer der besten Offensiven der Liga.

Der Mann aus Brescia steht aber nicht nur für beherzten Offensivfußball sondern verlangt von seinen Spielern 100%igen körperlichen Einsatz und Fitness. Das Spiel von de Zerbi ist körperlich intensiv und verlangt ein schnelles Umschaltspiel von Defensive auf Offensive sowie vice versa. Lange Sprints in der Vorwärts- und Defensivbewegung gehören zum Standardrepertoire. Etwas, dass unter Potter nicht alltäglich war, stand man doch um einiges tiefer als unter de Zerbi.

De Zerbi ist es gelungen mit seinem Fußball und der Leidenschaft, die er bei seinen Spielern entfachte, eine neue Mannschaft zu formen. Ein Team, bei dem Disziplin an oberster Stelle und die Mannschaft im Vordergrund steht. Selbst Topspieler wie Alexis MacAllister müssen sich in den Dienst der Mannschaft stellen. Wer dies nicht tut, fliegt, wie das Beispiel Leandro Trossard eindrucksvoll unter Beweis gestellt hat.

Erfolgsfaktor 2: Offensives Pressing als taktische Grundlage

Trotz anfänglicher Mühen, gelang es der Mannschaft schlussendlich relativ schnell die neue Marschroute des Trainers umzusetzen und Brighton entwickelte sich schnell zu einem unangenehmen Gegner.

Doch was macht die Taktik aus? Zum einen steht die Mannschaft sehr hoch und setzt den Gegner früh unter Druck. Zum anderen steht man in der Defensive sehr eng beim Gegner und unterbindet insbesondere ein Aufbauspiel durch die Mitte frühzeitig, indem man die Räume eng macht. Gelingt der Ballgewinn, erfolgt ein schnelles Umschaltspiel, das für zahlreiche Tore insbesondere gegen die Top-Mannschaften gesorgt hat, die tendenziell mit einem offeneren Visier gegen die Seagulls angetreten waren.

Das Ergebnis der taktischen Umstellung: Hohe Laufleistung, viel Ballbesitz und die viertbeste Offensive der abgelaufenen Premier-League-Saison. 72 Tore konnten die Seagulls erzielen – in der Vorsaison unter Graham Potter waren es nur 42.

Erfolgsfaktor 3: Transferpolitik und Jugendarbeit

Im Süden Englands ist man für Premier-League-Verhältnisse keinesfalls mit einem üppigen Budget ausgestattet und muss überdies damit leben, dass man jede Saison den ein oder anderen Stammspieler an einen Konkurrenten verliert. Mit Letzterem hat man sich bei Brighton abgefunden und gute Spieler in der Hinterhand, die die durch die Abgänge hinterlassenen Lücken meist gut und schnell schließen können.

Marc Cucurella, Yves Bissouma, Leandro Trossard, Ben White, Dan Burn, Neal Maupay, Anthony Knockaert – sie alle verließen in den letzten drei Jahren als durchwegs unumstrittene Stammspieler Brighton. Bereits vor der aktuellen Saison verlor man Alexis MacAllister für kolportierte 42 Millionen Euro an den FC Liverpool. Summa summarum mehr als satte 260 Millionen Euro wurden dadurch in die Kassen gespült, die man geschickt investierte.

Eines dieser Beispiele ist der eben genannte Marc Cucurella. 2021 für 18 Millionen Euro von Getafe gekommen, 2022 für 58 Millionen Euro an den FC Chelsea verkauft. Alexis MacAllister schloss sich den Seagulls 2019 für 8 Millionen Euro an und wurde im Somer 2023 für 42 Millionen Euro verkauft.

Für englische Verhältnisse können die Transfers von Facundo Buonanotte (6 Millionen Euro), Billy Gilmour (8,33 Millionen Euro), Julio Enciso (11,6 Millionen Euro), Pervis Estupinian (17,8 Millionen Euro), Karou Mitoma (3 Millionen Euro), Moises Caicedo (5 Millionen Euro), Joel Veltman (1 Million Euro) sowie Adam Lallana (ablösefrei) und Danny Welbeck (ablösefrei) als Schnäppchen bezeichnet werden. Mitoma und Caicedo werden bereits mit zahlreichen Top-Klubs in Verbindung gebracht. So soll etwa Moises Caicedo für eine Ablösesumme von mehr als 100 Millionen Euro mit dem FC Chelsea in Verbindung gebracht werden.

Bereits vor der aktuellen Saison sicherten sich die Seagulls die Dienste von James Milner (ablösefrei), Mahmoud Dahoud (ablösefrei) und Joao Pedro (34 Millionen Euro).

Aus dem eigenen Nachwuchs etwa entstammt Evan Ferguson. Der Mittelstürmer gilt als eines der Top Talente auf der Insel und wird bereits mit Harry Kane verglichen. Roberto Sanchez, der lange Zeit das Tor der Seagulls hütete, stammt ebenso aus dem eigenen Nachwuchs.

Brighton geht in Sachen Transfers einen gänzlich anderen Weg als zahlreiche andere Premier-League-Klubs, denn die Seagulls bedienen sich nur ausnahmsweise in England. Meist geht man den Weg nach Südamerika, wo man sich kostengünstiger Talente sichern kann.

Was bringt die Saison 23/24 – Fragen über Fragen und eine viel zu frühe Prognose

In diesem Stadium ist dies schwer abzuschätzen, jedoch kommen einige Faktoren dieses Jahr erschwerend für die Seagulls hinzu.

Doppelbelastung: Mit der Teilnahme an der Europa League wird die Anzahl der Spiele steigen und den Verantwortlichen in Brighton muss es gelingen, den Kader sowohl qualitativ als auch quantitativ zu verstärken. Die Transfers von Milner, Dahoud und Joao Pedro können erst der Anfang sein.

Wegfall Überraschungsfaktor: Das neue System war für viele Gegner in der abgelaufenen Saison überraschend und zahlreiche Teams hatten Probleme sich auf das Pressing der Seagulls einzustellen. Ob dies auch in der kommenden Saison noch der Fall sein wird, ist unklar. Vor allem die Top-Teams werden die Zeit über den Sommer nützen, um sich taktisch etwas einfallen zu lassen.

Was wird aus Ferguson und Caicedo? Um den Aderlass zu beschränken, muss es gelingen Evan Ferguson und Moises Caicedo zu halten. Ferguson steht auf dem Zettel zahlreicher Premier-League-Klubs, die bereit sind 50 Millionen Euro für den Iren hinzublättern. In England ist man sich weitgehend einig, dass Ferguson dieses Jahr der Durchbruch gelingen wird und er eines der größten Offensivtalente auf der Insel ist. Die Laufbereitschaft und das Stellungsspiel von Moises Caicedo zu ersetzen, wäre eine weitere schwer zu lösende Aufgabe. Er würde aber vermutlich um die 100 Millionen Euro in die Kassen spülen. Mit Alexis MacAllister hat man dieses Jahr bereits sein offensives Mastermind verloren, das man wohl nur schwer ersetzen kann.

Fazit: Der FC Brighton hat bewiesen, dass man aus der Not eine Tugend machen kann und man personelle Abgänge verkraften kann. Dass der Klub aus dem Süden Englands mit dem Abstieg nichts zu tun haben wird, gilt als sicher. Wie weit nach oben es gehen wird, hängt auch davon ab, wie sich der FC Chelsea und die Tottenham Hotspurs rehabilitieren werden. Dieses Jahr konnte Brighton stark von den schwachen Saisonen der beiden Londoner Klubs profitieren. Und dann gibt es ja noch Aston Villa, das in seiner ersten vollen Saison unter Unai Emery ebenso für eine Überraschung sorgen könnte.

Prognose: Für die Top-6 wird es wohl nicht reichen, aber die Seagulls werden es unter die Top 10 schaffen.

Patrick Stummer, abseits.at

Patrick Stummer