In dieser Serie gehen wir auf einzelne Weltklassetalente ein, die auf dem Sprung standen – und ihn nicht schafften. Zumeist waren es persönliche Tragödien,... Der verlorene Weltklassefußballer (13) – Tostao

Fußball in BrasilienIn dieser Serie gehen wir auf einzelne Weltklassetalente ein, die auf dem Sprung standen – und ihn nicht schafften. Zumeist waren es persönliche Tragödien, Verletzungen oder einfach die Umstände ihrer Karriere: zur falschen Zeit am falschen Ort kann manchmal schmerzhaft wahr sein.

Wir lassen die Karrieren dieser Akteure Revue passieren, spekulieren über die mögliche Auswirkung ihres fehlenden Durchbruchs in der Geschichte des Fußballs und ein kleines „was wäre, wenn…?“ darf natürlich auch nicht fehlen. Immerhin besitzt für solche Spieler nahezu jeder Fußballfan noch eine schöne Erinnerung und jene fragende Wehmut, welche Erinnerungen man nicht alles verpasst hat.

In diesem Teil widmen wir uns …

Tostao

Die große 1970er-Mannschaft Brasiliens gilt als der dominanteste und am schönsten anzusehende WM-Sieger aller Zeiten. Kapitän und Rechtsverteidiger Carlos Alberto gilt bis heute als Ebenbild des modernen offensiven Außenverteidigers in einer Viererkette, Gerson und Clodoaldo organisierten in der Mitte das Spiel wie es später erst Xavi und Busquets wieder tun sollten und der hängende Stürmer Pelé gilt für einige gar als der beste Fußballer aller Zeiten. Oft wird auch Jairzinho noch dazu gezählt, der als Rechtsaußen in jeder Partie mindestens ein Tor erzielte, und Linksaußen Rivelino, der seine Rolle spielgestaltend und freier als damals üblich interpretierte.

Einer wird aber immer vergessen, obwohl ihm insbesondere von Taktikanalysten und auch vielen Brasilianern eine besondere Rolle zugeteilt wird. Tostao galt zu jener Zeit als „weißer Pelé“ und der kommende Superstar des brasilianischen Fußballs. Vor dem Turnier wurden gar Stimmen laut, die Pelé nicht wiederberufen sahen (der Superstar bestritt zwischen 1966 und 1969 kein Länderspiel) wollten und stattdessen auf die Karte Tostao setzten. Doch dieser fügte sich selbst und war der Raumöffner für Pelé.

Ein Opfer für Pelés Genialität?

1970 übernahm nämlich Pelé jene Rolle, die eigentlich ideal auf Tostao gepasst hätte. Immer wieder ließ sich Pelé nach hinten fallen, spielte von dort aus tödliche Pässe oder ging in Dribblings. Aus dem halblinks ausgerichteten 17-jährigen Stürmer von 1958 war über die Jahre eine „falsche Neun“ geworden und später ein fast schon klassischer südamerikanischer Zehner, der das Offensivspiel seiner Mannschaft instruierte, ohne viel an Torgefahr zu verlieren.

Tostao erhielt die Aufgabe, die gegnerischen Verteidiger zu binden und zu verhindern, dass Pelé aus dem Spiel genommen wurde. Gleichzeitig ließ er sich manchmal selbst nach hinten fallen, um Pelé zu entlasten oder auf andere Art und Weise Raum zu schaffen – ihrer Fantasie waren keine Grenzen gesetzt. Beide galten nicht nur als technisch hochklassige Akteure, sondern spielintelligente Vertreter des Mittelstürmers. Einige sehen auch deswegen das Spielsystem der Brasilianer von damals als kein 4-4-2, sondern eher ein 4-2-3-1 oder gar ein 4-6-0. Pelé selbst adelte vor der WM Tostao, der selbst nach internen Streitigkeiten kurz vor dem Rausschmiss aus der Nationalmannschaft stand.

„Ich brauchte nur ein Spiel und wusste, dass dieser hochbegabte Junge wie ein Zwillingsbruder zur mir passen würde. Wenn ich den Ball führe, weiß er, wohin er laufen muss. Er ahnt förmlich meine Gedanken. Seit den Tagen von Coutinho habe ich mich mit keinem Stürmer so gut verstanden wie mit Tostão.“

Bei jener WM war Tostao erst 23 Jahre alt, hatte aber schon für Cruzeiro und den FC America in seiner Profizeit über 200 Tore erzielt, obwohl er auch oft als zentraloffensiver Mittelfeldspieler agierte. Für viele galt er als legitimer Nachfolger Pelés, 1971 wurde er gar zu Südamerikas Fußballer des Jahres gewählt, doch diese Weltmeisterschaft sollte seine Letzte sein. Mit nur 26 Jahren musste er seine Karriere viel zu jung beenden, als er sich aufgrund von Sehschwierigkeiten nicht mehr im Stande sah, Fußball spielen zu können. Diese Verletzung am Auge hatte er sich bei einem Fußballspiel 1969 zugezogen, als seine Retina beschädigt wurde; 1973 lebte die Verletzung wieder auf und bedeutete das Karriereende.

Nachwehen

Für die Brasilianer brachen schwere Zeiten an. 1974 schieden sie ohne größeren Eindruck zu hinterlassen bei der WM aus, 1978 ebenfalls. Erst die 82er-Generation um Zico und Socrates sollte wieder die Fußballwelt mit ihrem schönen Fußball verführen. Die Brücke zwischen dem 70er- und 82er-Team wäre wohl Tostao gewesen, dessen Spielwiese perfekt für den brasilianischen Fußball stand.

Tostao bewegte sich hervorragend, konnte seine Position verlassen, ohne die Mannschaft auseinander zu reißen. Sein Kombinationsspiel galt weltweit als das Beste, immer wieder bot er auch unter Druck eine sichere Anspielstation und konnte schwierige Pässe behaupten und schnell weiterleiten. Gepaart mit seiner Torgefährlichkeit, Kreativität im Passspiel und Spielintelligenz war er damals der Liebling der Brasilianer. Nicht umsonst wurde er später sogar auf Platz 5 der besten brasilianischen Fußballer des 20. Jahrhunderts gewählt.

In seiner Karriere erzielte er 366 Tore in 465 Spielen, bis heute ist er der Rekordtorschütze von Cruzeiro Belo Horizonte. Nach seinem Karriereende finanzierte er sich ein Medizinstudium und wurde Arzt, doch in den Neunzigern beendete er aus Kritik am brasilianischen Gesundheitswesen seine Tätigkeit und arbeitet nun als populärer Buchautor und Zeitungskolummnist.

Rene Maric, abseits.at

Rene Maric

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