Jeden Sonntag wollen wir in dieser Serie Spieler beleuchten, die ungewöhnliche Wege eingeschlagen haben. Wir möchten Geschichten von Sportlern erzählen, deren Karriere entweder im... (Wo)men to (re)watch (14) –  Mia Hamm (KW 14)

Jeden Sonntag wollen wir in dieser Serie Spieler beleuchten, die ungewöhnliche Wege eingeschlagen haben. Wir möchten Geschichten von Sportlern erzählen, deren Karriere entweder im Konjunktiv stecken blieb, die sich zu einem gegebenen Zeitpunkt radikal verändert haben oder sonst außergewöhnlich waren und sind: Sei es, dass sie sich nach dem Fußball für ein völlig anderes Leben entschieden haben, schon während ihre Profizeit nicht dem gängigen Kickerklischee entsprachen oder aus unterschiedlichen Gründen ihr Potenzial nicht ausschöpften. Auf jeden Fall wollen wir über (Ex)-Fußballer reden, die es sich lohnt auf dem Radar zu haben oder diese (wieder) in den Fokus zu rücken. Wir analysieren die Umstände, stellen Fragen und regen zum Nachdenken an. In der vierzehnten Folge widmen wir uns – bereits zum zweiten Mal – einer US-amerikanischen Fußballerin …

„Es gab Zeiten, da dachte ich, ich wäre die Beste. Und es gab Tage, da habe ich mich gefühlt, als könnte ich mir nicht einmal die Schuhe zubinden.“, sagt jene Frau, die mit 15 Jahren Nationalspielerin wurde, zwei olympische Goldmedaillen sowie zwei Weltmeistertitel geholt und zweimal die Wahl zur FIFA‑Weltfußballerin gewonnen hat. Solche Selbstzweifel hört man von männlichen Fußballern – wie Ronaldo, Ibrahimovic oder Kahn – kaum, Mia Hamm dagegen gibt unumwunden zu, dass sie von ihren Fähigkeiten nicht immer überzeugt war. Genügsamkeit, Bescheidenheit – das sind auch heute noch weibliche Tugenden, dabei wusste schon Simone de Beauvoir, dass Frauen, die nichts fordern, bei ihrem Wort genommen werden und daher nichts bekommen. Nicht nur aus diesem Grund wollen wir mit dem folgenden Text Hamms Karriere, die dem Frauenfußball den Weg weiter geebnet hat, würdigen.

Girl next door

Mia Hamm ist und war eine Kämpferin. Das vermittelt sie heute auch ihren Töchtern: „Wenn ihr mitmacht, habt ihr immer eine Chance. Tut es einfach, glaubt daran, dass ihr es wert seid und dann seid ihr es auch wert.“ Hamm ist keine gewöhnliche Ex-Fußballerin: Sie hat jenem Sport, der in den Vereinigten Staaten als langweilig galt, in den 90er-Jahren ein Gesicht gegeben und so dazu beigetragen, dass bis heute kein anderes Land den Nordamerikanerinnen im Frauenfußball das Wasser reichen kann. Dabei sah es anfangs so aus, als würde die spätere Weltmeisterin niemals (gleich welchen) Profisport betreiben.

Geboren wird die 276-fache Nationalspielerin als Mariel Margaret Hamm vor fast genau 50 Jahren in Selma, Alabama – einem Ort, der heute wegen seiner Rolle im Kampf gegen die Rassentrennung weltweit bekannt ist. Im Süden der USA verbringt das dritte von sechs Kindern eines Luftwaffen‑Piloten und einer ehemaligen Ballerina aber nicht viel Zeit, denn die Großfamilie zieht – ob der Tätigkeit des Vaters – viel umher. So wohnen die Hamms in Virginia und Kalifornien, ehe sie nach Europa übersiedeln. Kurz vor diesem Umzug hatten Bill und Stephanie Hamm nach der Geburt ihrer vierten Tochter zwei Söhne adoptiert. Einer davon, der achtjährige Garrett, sollte Mias Leben eine neue Wendung geben, indem er ihr eine Welt eröffnet, von der die Geschwister glauben, dass sie Mia insgeheim schon lange begeistert, hatte: Sport. Wegen eines angeborenen Klumpfußes muss die spätere Spitzenspielerin sich in ihrer frühen Kindheit allerdings schonen und spezielle Schuhe tragen, doch jetzt kennt Garrett kein Erbarmen: Er wirft seiner kleinen Schwester einfach den Football zu oder fährt mit ihr Fahrrad.

Endlich kann Mia ihren Ehrgeiz, der zuvor bei sämtlichen Brettspielen Familienkriege ausgelöst hatte, ausleben. Garrett sei Dank. Später wird Mia ihren 2012 geborenen Sohn nach dem großen Bruder, der so viel für sie getan hat, benennen.

Als die Familie in Rom und Florenz lebt, ist Garrett der Erste, der vom Fußballfieber befallen wird und seine Geschwister damit ansteckt. Auch Vater Bill, dem Kollegen einen Stadionbesuch ermöglichen, zeigt sich begeistert. Zurück in den USA coacht er das erste Team seiner Kinder. Die damals fünfjährige Mia liegt ihm in den Ohren und will mitspielen. Dabei ahnt keiner, dass sie aufgrund ihrer fußballerischen Qualitäten zwanzig Jahre später in einem Werbespot gemeinsam mit Michael Jordan auftreten wird. „Sie war die geborene Athletin und einfach angstfrei.“, erinnern sich Mias Schwestern beim Stöbern in alten Schwarzweißfotos, die ein Mädchen mit dunklen Haaren, der Nummer 25 und dem großen Schriftzug „MIA“ auf dem Rücken zeigen, an die ersten Spiele der späteren Olympiasiegerin.

Mit Schuleintritt in Texas beginnt die Stürmerin mit dem Mannschaftsfußball und man erkennt von Anfang an ihr Talent: Das Mädchen ist schnell, technisch gut und torgefährlich. Rasch macht sie sich einen Namen und debütiert noch als High-School-Schülerin für die US-amerikanische Nationalmannschaft. In ihrem letzten Schuljahr holt Hamm mit ihrem Team von der Lake Braddock Secondary School in Virginia die Schul-Staatsmeisterschaft. Danach inskribiert sie an der University of North Carolina, wo sie für die Tar Heels kickt und in fünf Jahren vier Uni-Meistertitel erringt. Ihre Trainer können sie nicht bremsen und die Ouvertüre zur „Mia-Mania“ beginnt.

Die Angreiferin bricht den Tor-, Assist- und Topscorer-Rekord der Frauenfußball-College-Liga und wird dreimal zur Spielerin des Jahres gewählt. In ihrer Zeit verlieren die Tar Heels nur eines (nach anderen Angaben: drei) von 95 Spielen, in denen sie eingesetzt wird. Dieser Erfolg ist hausgemacht, denn die Offensivspielerin legt Zusatzschichten ein: Vor dem Uni-Kursprogramm absolviert sie Laufeinheiten und geht abends noch in die Kraftkammer. Mia hat die Mentalität einer Siegerin: „Ich bin erwachsen geworden.“, erzählt das einst so widerspenstige Mädchen über seine Zeit in North Carolina, die 1993 mit dem Abschluss in Politikwissenschaften endet. Zwei Jahre zuvor wird die 19-jährige mit ihren Teamkameradinnen Weltmeisterin bei der Endrunde in China.

Mia Hamm steht an der Schwelle zu einer großen Karriere, doch es gibt keine Frauenprofiliga, in der sie sich beweisen kann. Deshalb spielt sie nur im Nationalteam, das dafür aber beeindruckend: Die Schlaglichter: 1995 WM-Dritte, 1996 Olympiasiegerin, 1999 Weltmeisterin, 2003 und 2004 erneut dritter Platz bei der WM bzw. Olympia-Gold. Am 18. September 1998 schießt die Offensivspielerin beim 4:0 gegen Russland als erste US-Kickerin und dritte Spielerin weltweit ihr 100. Länderspieltor. Ihr Torrekord für die US-Nationalmannschaft wird erst 2013 von Abby Wambach eingestellt. Hamm ist mit ihren athletischen Voraussetzungen, ihrem technischen Können und ihrem Siegeswillen die perfekte Spielerin. Eine englische Gegnerin beschreibt sie folgendermaßen: „Sie ist sehr aggressiv und kann gemein sein. Aber das ist Teil ihres Spieles, sie will erfolgreich sein.“

Mia-Mania: „Wenn man von ‚soccer‘ sprach, kam gleich ‚Mia Hamm‘“.

Die Austragung der Endrunde in den USA 1999 reißt sogar den damaligen US-Präsidenten Clinton, der zugab von der Performance der Damen „thrilled“ zu sein, mit. Mia wird als Postergirl der US‑Nationalmannschaft vermarktet. Tatsächlich sind selbst die Trainingseinheiten der Amerikanerinnen so gut besucht, dass die Spielerinnen ihre Zurufe nicht verstehen. Kaum einer weiß dabei, dass die Wochen vor der Weltmeisterschaft für die Starspielerin aber nicht einfach waren. Ausgerechnet vor dem Großereignis flatterten Mias Nerven, die Goalgetterin ist sieben Spiele ohne Torerfolg und bricht im Büro des Nationaltrainers Tony DiCicco weinend zusammen. Sie fängt sich knapp vor der Endrunde und die USA ziehen ins Finale gegen Erzrivale China ein. Dort verwandelt die wieder vor Selbstvertrauen strotzende Mia den ersten Strafstoß des Elfmeterschießens. Das legendäre Foto von ihrer Kollegin Brandi Chastain im Sport-BH auf dem Rasen geht um die Welt: Die USA sind Weltmeisterin!

Mit diesem Sieg ist Hamm auf dem Höhepunkt ihrer Popularität angelangt. Aus dem Mädchen von nebenan wird ein Superstar und es hagelt in der Folge Werbeverträge, Interviewanfragen und TV‑Auftritte. Der Rummel um ihre Person ist sicher nicht nur Mias sportlicher Qualität geschuldet, denn die 1,63 Meter große Spielerin sieht – so muss man es offen sagen – überdurchschnittlich gut aus. Die Bewegungen der Tochter einer Balletteuse sind zudem nicht hölzern, sondern grazil und überzeugen so viele – meist männliche – Zuschauer, die Frauenfußball sonst gern als unästhetisch abtun. Für die Werbung ist Mia das perfekte Testimonial: Natürlich schön, schlank, erfolgreich. Barbiepuppen werden nach ihrem Vorbild gestaltet, ein US-amerikanischer Sportartikelhersteller widmet der Spielerin einen Schuh und benennt ein Gebäude des Firmensitzes nach ihr. Zwei Jahre nach der WM ‘99 wird die Angreiferin das Gesicht der ersten professionellen Liga in den USA, der Women’s United Soccer Association (WUSA).

Während ihres steilen Aufstiegs Ende der 90er, muss Mia jedoch einen privaten Schicksalsschlag hinnehmen: Ihr Bruder Garrett leidet an aplastischer Anämie. Obwohl er schon sehr schwach ist, lässt er es sich nicht nehmen das Finale der Olympischen Spiele 1996 im Sanford Stadium zu verfolgen. Garrett ist der Erste, der seiner Schwester nach dem 2:1-Sieg zur Goldmedaille gratuliert. Ein Jahr später stirbt er im Alter von nur 28 Jahren nach einer Knochenmarkstransplantation. Mia gründet eine Stiftung, um die Erforschung der Krankheit an der Garrett litt zu unterstützen. Der Tod des geliebten Bruders, der sie zum Fußball gebracht hat, ist ein harter Schlag für sie. Dazu kommt, dass die Spielerin von Washington Freedom monatelang mit einer Knieverletzung ausfällt, zeitgleich scheitert die Ehe mit ihrer Jugendliebe.

Die letzten 90er- und ersten 2000er-Jahre sind somit mit hohen Höhen und tiefen Tiefen gespickt. Doch Mia Hamm beendet ihre sportliche Laufbahn mit Erfolg, ehe sie sich völlig ihrem Privatleben zu widmen beginnt: Am 14. August 2003 gewinnt sie mit Washington das WUSA-Finale gegen Atlanta und sichert sich so die Meisterschaft. Es ist ihr letzter Titel, die WUSA ist pleite und Hamm erklärt sieben Monate später ihren Rücktritt. Nach achtzehn Jahren im Nationalteam steuert sie noch zwei Tore beim Sieg gegen Mexiko bei und verlässt dann die Fußballbühne.

Die Stürmerin hängt die Schuhe an den Nagel, doch die Euphorie, die sie – besonders bei Mädchen – ausgelöst hat, bleibt. Pele wählt sie als eine von zwei Frauen in seine Liste der hundert besten Fußballer:innen aller Zeiten. Als Kickerin mit den meisten Hattricks und Assists in der Nationalmannschaft ist sie klarerweise auch in der Hall of Fame und im All-Time-US-Team gesetzt. Nach ihrem Rücktritt heiratet Mia Hamm einen ehemaligen Baseballspieler und wird Mutter von drei Kindern. Heute ist die Ex-Profispielerin Vorstandsmitglied der AS Roma und hat in ein Major-League-Soccer-Team investiert. In einem Interview mit CNN im Jahr 2014 schildert die damals 42-jährige ihren Tagesablauf so: „Ich bin nur eine frühere Spielerin, die jeden Tag aufsteht, die Kinder zu Schule bringt und dann herausfinden muss, was ich ihnen mittags und abends koche.“ Ganz schön bescheiden für eine Fußballerin, die von manchen als die Beste aller Zeiten bezeichnet wird.

Marie Samstag, abseits.at

Marie Samstag