Jeden Sonntag wollen wir in dieser neuen Serie Spieler beleuchten, die ungewöhnliche Wege eingeschlagen haben. Wir möchten Geschichten von Sportlern erzählen, deren Karriere entweder... (Wo)Men to (re)watch (8) –  Nadia Nadim (KW 8)

Jeden Sonntag wollen wir in dieser neuen Serie Spieler beleuchten, die ungewöhnliche Wege eingeschlagen haben. Wir möchten Geschichten von Sportlern erzählen, deren Karriere entweder im Konjunktiv stecken blieb, die sich zu einem gegebenen Zeitpunkt radikal verändert haben oder sonst außergewöhnlich waren und sind: Sei es, dass sie sich nach dem Fußball für ein völlig anderes Leben entschieden haben, schon während ihre Profizeit nicht dem gängigen Kickerklischee entsprachen oder aus unterschiedlichen Gründen ihr Potenzial nicht ausschöpften. Auf jeden Fall wollen wir über (Ex)-Fußballer reden, die es sich lohnt auf dem Radar zu haben oder diese (wieder) in den Fokus zu rücken. Wir analysieren die Umstände, stellen Fragen und regen zum Nachdenken an. Im achten Teil wenden wir uns Nadia Nadim zu: Fußballerin, Ärztin, Mehrsprachige, Flüchtlingskind…

„Ich sah ein Mädchen mit Pferdeschwanz. Sie war eine gute Fußballerin und ich wollte wie sie sein.“

Das sind die ersten Gedanken, die Nadia Nadim durch den Kopf schießen, als sie durch den Maschendrahtzaun des Flüchtlingslagers in Randers, Dänemark, auf einen nahegelegenen Sportplatz sieht, wo ein Mädchenteam trainiert. Fußball – das ist für die Elfjährige Liebe auf den ersten Blick, ein Blitzeinschlag, der zur Obsession wird und Nadias Schlüssel zu einer fruchtbaren Zukunft ist. Damals weiß sie noch nicht, welches Leben ihr – dank ihrer Ballkünste – bevorstehen soll, denn Nadims Geschichte beginnt in einem Land, in dem Kindern (insbesondere Mädchen) nicht alle Türen offenstehen.

Nadim wird als eine von fünf Töchtern am 2. Jänner 1988 in Herat, der drittgrößten Stadt Afghanistans, geboren. Ihr Vater ist General in der afghanischen Armee, ihre Mutter arbeitet als Lehrerin. Die Situation für Frauen ist bereits vor der Machtübernahme der fundamentalistischen Taliban nicht von jener westlichen Freiheit geprägt, die damals zeitgemäß war, nachdem die religiösen Fanatiker jedoch die Regierung stellen, kann man sich das weitere Leben der Afghaninnen redlich ausmalen. Zuvor – im Kindergartenalter – tritt Nadia erstmals mit ihren Schwestern gegen den Ball. Ihr Vater ist ein Sportenthusiast, den sie als „James-Bond-Typ“ beschreibt: Er ist ihr Held und findet es witzig, wenn seine Mädels um die Kugel balgen – das natürlich unter Ausschluss der Öffentlichkeit, heimlich im Innenhof des Hauses. Nadias Kindheit und die ihrer Schwestern endet jäh, als die Taliban immer mächtiger werden: Die spätere dänische Nationalspielerin ist elf Jahre alt, als ihr Vater verschleppt und hingerichtet wird. Es ist ein tragischer Verlust, über den sie noch heute schwer sprechen kann.

Nadias Mutter nimmt daraufhin das Heft in die Hand: Die Familie bezahlt Schlepper, um nach Europa zu kommen. Sie wollen zu Verwandten nach England und werden von den Menschenschmugglern zunächst nach Pakistan gebracht. Von dort reisen sie mit gefälschten Pässen weiter nach Italien und stranden schließlich in Dänemark. Als die ausgehungerte Nadia sich umsieht, sieht sie weder Big Ben noch Themse, sondern nur Wälder. Nach wenigen Wochen voller Aufregung und doch Langeweile im Flüchtlingslager, trifft sie ihr Schicksal in Gestalt des nahegelegenen Fußballvereines. Kismet. Faszination.

„Ich konnte zwar kein Englisch, aber ich habe dem Trainer zu verstehen gegeben, dass ich mitspielen wollte. […] Plötzlich machte ich die Aufwärm- und Trainingsübungen mit. Ich wusste nicht, was los war, aber es war unglaublich.“, berichtet Nadim von ihren ersten Spielversuchen. Sie ist ein Naturtalent und schnürt in Aalborg, wo sie in der Folge aufwachsen wird, ihre ersten Vereinsfußballschuhe. Es beginnt jene Zeit, in der sie – nach eigenen Angaben – lernt, den Moment zu genießen: „Ich kenne auch die dunkle Seite des Lebens.“ Ja, da kann man ihr nur beipflichten. Nadia ist technisch hochtalentiert, ehrgeizig und lauffreudig.

Bei IK Skovbakken reift sie in sechs Jahren zu einer Top-Angreiferin, als 24‑jährige kommt sie zum dänischen Rekordmeister Fortuna Hjørringund und debütiert in der Champions League. Sie wird 2013 dänische Vize-Meisterin, holt ein Jahr später den Titel und scheitert zweimal erst im CL-Achtelfinale. 2014 wechselt sie ins Ausland, kann sich jedoch beim Sky Blue FC im amerikanischen New Jersey nicht durchsetzen. Die Offensivspielerin wird schließlich für eine Saison nach Portland verliehen und transferiert schließlich zur Frauenabteilung von Manchester City. „Dieser Verein hat so viel für Frauenfußball getan und ich möchte jetzt ein Teil davon sein.“, ist sie voll des Lobes für ihren neuen Arbeitgeber bei Vertragsabschluss. Doch, obwohl sie erfolgreich ist – sie wird mit Portland Meister, mit Manchester City Ligazweite – gelingt es ihr nicht einem Klub ihren Stempel aufzudrücken. 2019 wechselt die erste dänische Fußballerin mit einer Sponsorvereinbarung mit dem größten amerikanischen Sportartikelhersteller zu Paris St. Germain. Auch hier wird sie zweimal Vizemeisterin und Meisterin. Der Traum vom CL-Gewinn scheitert erst im Halbfinale 2020 an Erzrivale Olympique Lyon. Nadim ist enttäuscht, zwar liebt sie ihr Leben an der Seine, ist aber von der „Laissez-faire-Mentalität“ vieler einheimischer Teamkolleginnen angeödet und geht zurück in die USA. Aktuell steht sie bei Racing Louisville FC in Kentucky unter Vertrag, Mitte März wird sie wieder um Tore und Punkte kämpfen.

Das Geheimnis ihres sportlichen Erfolges sind – neben dem obligatorischen fußballerischen Talent – Nadims Charaktereigenschaften: Die Stürmerin ist energisch, zielstrebig und gibt nie auf. Sie ist eine Kämpferin mit Nerven aus Stahl. In ihren eineinhalb Saisonen bei den Portland Thorns verschießt sie nur einen einzigen Elfmeter, den sie jedoch – nachdem er von der Torfrau abgeprallt ist -postwendend auch verwerten kann. Seit 2009 hat sie 99 Spiele im dänischen Nationaltrikot abgeliefert und dabei 38-mal getroffen. Sie ist die erste eingebürgerte Fußballerin in der Nationalmannschaft der Nordeuropäer; einen derartigen Fall hat es auch bei den dänischen Herren noch nicht gegeben. Nadim hat an drei EM-Endrunden teilgenommen und bei zweien dieser die meisten Tore für ihr Team geschossen. 2017 scheitern die dänischen Damen erst im Finale an den Niederlanden, wobei Nadim das erste Tor des Spieles schießt.

Alles, was die Taliban hassen.

Spätestens seit ihrem Engagement in Frankreich wird Nadim auch außerhalb der (immer noch kleinen) Welt des Frauenfußballs bekannt. Sie nutzt ihre Popularität für Wohltätigkeitsarbeit, die Presse verklärt ihr Leben derweilen zum Märchen und stilisiert das Flüchtlingskind zum Tausendsassa. Nadia Nadim spielt mit, sie gibt sich leutselig und doch geheimnisvoll. Während ihre Kolleginnen mit ihrem Sport meist kaum Geld verdienen können, schließt sie lukrative Werbedeals ab und wird medial als Integrationsprototyp dargestellt. Leistungsgesellschaft eben. Nadim inskribiert Medizin auf der Universität Aarhus, strebert nach dem Training via Fernlehre und nutzt die spielfreie Zeit für Prüfungen und Praktika. Vor wenigen Wochen hat sie ihr Studium als Dr. med. erfolgreich beendet. Außerdem ist sie ein Sprachtalent: Schon nach kurzer Zeit in Paris gibt sie Interviews auf Französisch, als Elfjährige lernt sie während des Flucht-Intermezzos in Pakistan Urdu. Ihr Englisch ist nearly perfect, sie beherrscht klarerweise Dänisch und ihre Muttersprache Dari. Deutsch spricht sie übrigens auch. Nadim scheint heute ein perfektes Leben zu führen, aber: Auch wenn ihr mediales Profil eine durchtrainierte, erfolgreiche, hübsche Frau zeigt, Nadim weiß, woher sie kommt. Irgendwo ist sie das Mädchen mit den dunkelsten Haaren auf dem grobkörnigen Mannschaftsfoto des GUG Boldklub FC geblieben. „Ich fühle mich nicht als normale Dänin.“, seufzt sie melancholisch und macht eine Pause. Das fällt auf, denn für gewöhnlich lächelt die Spielerin, spricht klar und bestimmt. Trotz allem Glamour und sportlichem Erfolg versucht sie den Spagat als mahnende Stimme die Über-Drüber-Sportwelt am Boden zu halten.

Als die Taliban 2021 Kabul zurückerobern, platzt ihr Traum von einem Besuch in der alten Heimat. Schließlich ist eine selbstbewusste, gebildete, sportliche Frau ein No-Go für die Fundamentalisten. Nadims Reisepläne wurden daher aufgeschoben. Ziemlich sicher ist dagegen, dass die Fußballerin nach ihrer Sportkarriere als Ärztin arbeiten wird, das ist nämlich Familiensache: So sind alle Nadim-Schwestern im sozialen Bereich tätig – als Medizinern, Krankenschwestern und Pflegerin. Woher kommt der Wunsch anderen helfen zu wollen? Nadia führt ihn auf eines ihrer ersten Erlebnisse in Dänemark zurück: „Da war dieser Polizist. Er sah, dass wir hungrig waren, und brachte uns Milch, Bananen und Toast. Eine kleine Geste, aber es war das Netteste, was jemals für mich gemacht wurde. Bananen haben noch nie so gut geschmeckt!“ Noch steht aber ihre Fußballlaufbahn im Mittelpunkt und auch dafür gibt es gute Gründe: „Fußball ist simpel und komplex. Und es ist nicht entscheidend, wer du bist, wenn du spielst.“ Worte, wie ein Elfmeter ins Kreuzeck.

Marie Samstag, abseits.at

Marie Samstag