Herr Frege musste jene Erfahrung machen, die wohl fast alle Autoren machen: Er wollte ein Buch schreiben und es schrieb sich von selbst, schweifte... Buchrezension: „Hope Street – Wie ich einmal englischer Meister wurde“ von Campino

Herr Frege musste jene Erfahrung machen, die wohl fast alle Autoren machen: Er wollte ein Buch schreiben und es schrieb sich von selbst, schweifte ab von jenem Thema, das sein Schöpfer eigentlich für es vorgesehen hatte. Herr Frege ist in der Öffentlichkeit als „Campino“ bekannt und verdient sein Geld seit fast vierzig Jahren als Sänger und Frontman der Punkband „Die Toten Hosen“. Im Oktober 2020 hat Campino, der sonst die Texte für die Songs der Band schreibt, erstmals einen ganz langen Text veröffentlicht: „Hope Street – Wie ich einmal englischer Meister wurde“. Nach Eigenaussage habe er ursprünglich eine Art „Roadmovie“ fabrizieren wollen, die Geschichte eines Fußballfans, der seiner Mannschaft hinterher reist. Doch es ist anders gekommen…

Jennie, Joachim und Peter

„Hope Street“ wurde kein Fußballbuch im engeren Sinn. Es geht darin zwar vorgeblich um die Leidenschaft des 58-jährigen Düsseldorfers für den Liverpool FC, untermalt wird das „Tracking“ der Meistersaison der Reds 2019/20 aber von der außergewöhnlichen Familiengeschichte des Sängers. Es wird nicht nur das turbulente Elternhaus, in das Campino im Juni 1962 als sechstes von sieben Kindern hineingeboren wird, beschrieben, sondern auch die Liebesgeschichte seiner Eltern, Urlaube in Cornwall, Konzertbesuche in London, Skifahren in Österreich und seine eigene Hochzeit. Dabei wird ein Stück Zeitgeschichte gefangen im Stundenglas eines individuellen Lebens widergespiegelt. Alles beginnt damit, dass Jennie aus Burnley, Oxford-Studentin, am 30. September 1947 den Bahnhof Liverpool (!) Street in London verlässt, um nach Göttingen zu reisen. Der Zweite Weltkrieg ist quasi eine Minute aus und sie begibt sich in das Land der Täter. Sie wird Peter kennenlernen, der eigentlich Joachim heißt. Peter ist Student der Rechtswissenschaften, ein Berliner Jung‘ und hat den Krieg als Soldat in Schützengräben miterlebt. Sein Sohn und Buchautor räumt ein: „Mit zwanzig habe ich die Toten Hosen gegründet und lag auch in Straßengräben, allerdings freiwillig und betrunken. In mancher Auseinandersetzung nahm ich mir die Freiheit gegen ihn [den Vater, Anmerkung] zu rebellieren, blind dafür, was er in meinem Alter durchgemacht hatte“. Anhand des Briefverkehrs zwischen Peter und dessen Eltern rekonstruiert Campino die Kriegserfahrungen seines Vaters. Die Beziehung der Eltern stößt in beiden Familien auf Ablehnung. Insbesondere der englische Teil ist von der binationalen Eheschließung empört „How could you marry a German?“. Mit ihrer rasant anwachsenden Kinderschar leben Jennie und Peter in der Nähe von Düsseldorf: Er ist als Richter vielbeschäftigt, sie versorgt neben ihrer Lehrtätigkeit für Englisch den Haushalt und die Familie. Jennies wachsende Sehnsucht nach ihrer Heimat ist für alle spürbar: Sie vermisst die britische Mentalität. „Die Art, mit Schwierigkeiten umzugehen. Sie sehnte sich nach Humor und Gelassenheit, diese Haltung von ;It could be worse, it could be raining.‘“

Campino hat nie einen Hehl daraus gemacht, dass die mit der Muttermilch aufgesogene Begeisterung für England mitverantwortlich war, als kleiner Bub, als Fußball-Graugans, einen Klub von der Insel als Lieblingsfußballverein auszuwählen. Der kleine Andreas – Campino sagt damals noch niemand – hört Radioübertragungen auf British Forces Broadcasting Service und lässt sich so für den Arbeiterverein aus dem Nordwesten Englands begeistern. Als Kind ist die Liebe zu den Reds eine unerfüllte und das ist wahrscheinlich mit ein Grund, warum diese Liebe später zu einer Manie ausreift, die bis heute anhält.

You’ll never walk alone

Tatsächlich offenbart der Sänger in „Hope Street“, dass seine beruflichen Termine so gut es geht um die Matches seines Lieblingsvereins herumgeplant werden. Er reist so oft es geht an die „Anfield Road“ und zu Auswärtsspielen. Diese Wochenendtrips, die manchmal wirklich nur für das Match selbst ohne Gepäck und Hotelzimmer erfolgen, nimmt er zum Anlass, um über die Sinnhaftigkeit dieser Unternehmungen zu philosophieren und kommt zu dem Schluss, dass nicht immer alles etwas sein muss, dass einen weiterbringt. Manchmal möchte er nämlich nur im Regen Fußball in Belgien schauen. Diese Art von Unterhaltung erlebt auch der Leser in den dahinplätschernden Erzählungen, die von Campinos Teesammlung, Erinnerungen an familiäre Tipp-Kick-Turniere bis zum Tod seines Vaters – „I think Daddy has passed away.“ – die emotionale Klaviatur rauf und runterspielen. Fest steht, dass der Tote Hosen-Sänger eine interessante Mischung aus Sohn aus gutem Hause, Bürgerschreck, klugem Kopf, Feierbiest, Junggebliebenen und Künstler ist. Viele Momente nach den Spielen verbringt er mit Jürgen Klopp und seiner Familie. Man spürt die ernsthafte Verehrung, die er dem Meistertrainer entgegenbringt, in jedem Wort mitschwingen. Campino scheint ein Hedonist mit Verantwortungsgefühl zu sein. Einzig die Katastrophe von Heysel 1985 lässt seine Liverpool-Liebe kurzfristig erkalten, doch zwei Jahre später ist das alte Fieber zurück. Vielleicht ist das Buch der Versuch einer Rechtfertigung: In Zeiten von „Fridays for Future“ ist die Kompensationsgebühr für Vielflieger auch nicht das Maß aller Dinge. Dem Punksänger muss klar sein, dass er ein Bonvivant im Fußballtrikot ist. Das Saisonfinale erlebt er mit seiner Frau und der Familie Klopp auf Sylt. Chelsea spielt gegen Man. City. Die Londoner gewinnen und machen Liverpool frühzeitig zum PL-Sieger: Liveschaltung zu Jürgen und den Boys, die das Spiel in einem Hotel verfolgt haben, alle jubeln und am Ende legt Campino John Lennons „Imagine“ auf.

„Hope Street“ ist keine Geschichte, es sind viele Geschichten, die einen gemeinsamen Referenzpunkt haben. Der Autor zieht Schlussbilanz: „Ich habe geheiratet, meine Ohren werden immer schlechter, und Lenn [16-jähriger Sohn von Campino; Anmerkung] ist inzwischen auch schon einen halben Kopf größer als ich. So what!“ Ein typisch britisches, trockenes Fazit über ein sinnfreies Hobby, ein gutes Leben ohne penetrante Lehrhaftigkeit. „Hope Street“ liest sich wie süß-saures Fish’n’Chips und hinterlässt wohliges Sättigungsgefühl. Vor allem in der Herzgegend.

„Hope Street | Wie ich einmal englischer Meister wurde“ von Campino ist am 5. Oktober 2020 im Piper Verlag erschienen.

Marie Samstag