Den Meistertitel einer englischen Fußballmannschaft empfinden wir als „Märchen“. Leicesters Triumph berührt uns wie kaum ein Fußballereignis bisher.  Warum lieben wir Jamie Vardy? Warum sind... Loving Leicester – oder: Gegen jede Regel

_Leicester City - Wappen, LogoDen Meistertitel einer englischen Fußballmannschaft empfinden wir als „Märchen“. Leicesters Triumph berührt uns wie kaum ein Fußballereignis bisher.  Warum lieben wir Jamie Vardy? Warum sind wir jetzt alle Leicester? Der Versuch einer Annäherung an das rebellische Gefühl vom „Fußball, den wir lieben“ in Zeiten wie diesen.

Stellen wir uns folgende fiktive Szene in  Hollywood vor: Ein Regisseur blickt gelangweilt aus dem Fenster seines Büros als plötzlich die Tür aufgerissen wird und sein Kreativ-Assistent aufgeregt hereinplatzt. „Ich weiß was wir machen!“, japst dieser. „Ich hab DIE Idee für einen Film!“ Der Regisseur lässt sich in seinen Ledersessel sinken. „Und…?“ „Pass auf. Wir machen einen Sportfilm. Wir nehmen ein erfolgloses Fußballteam aus der Peripherie, der letztes Jahr kurz vorm Abstieg aus der höchsten Liga  stand und jetzt von einem schrulligen Investor übernommen wird. Warte – einem Thailänder! Und der fliegt per Hubschrauber ins Stadion und verteilt nach Siegen Gratis-Donuts an die Fans! Und dann….dann holt er erfolglose Spieler ins Team die entweder keiner kennt, oder wo anders aussortiert wurden. Warte….einer davon hat sogar Vorstrafen und schießt plötzlich jede Menge Tore obwohl er vor wenigen Jahren noch in unteren Ligen kickte. Und ein anderer, am besten ein unbekannter Legionär, wird zum ‚Spieler der Saison‘ gewählt. Denn – und das ist der Höhepunkt- diese vermeintliche Loser-Truppe gewinnt die Meisterschaft und lässt sämtliche titelbehangene Großclubs hinter sich! Na? Ist das eine Geschichte?!“ Der Regisseur blickt den Kollegen nur müde an. „Nette Geschichte. Nur: wer soll das glauben?“

Wer soll das glauben? Berechtigte Frage. Würde ein Filmemacher derartig kitschigen Stoff produzieren, würden die wenigsten Zuschauer Kommentare wie „realitätsbezogen“ oder „nahe am Leben“ verwenden. Diesen Montag ist genau diese Geschichte in England passiert. Durch das Remis von Tottenham Hotspur bei Chelsea stand fest dass die „Spurs“ Tabellenführer Leicester City nicht mehr von der Spitze der Premier League verdrängen können. Leicester City, zu Beginn der Saison als Abstiegskandidat gehandelt, ist erstmals Meister.

Messstation Facebook

Moderne Kommunikationsmittel wie Twitter und Facebook sind nach solchen Ereignissen ideale Messstation, wie sehr die Geschichte den Menschen zu Herzen geht. Man scrollt sich durch die Beiträge und jedes Portal scheint irgendetwas mit Bezug zum neuen Titelträger zu posten, Videos werden tausendfach geteilt, geliked und kommentiert. Wir sind alle Leicester!
Warum? Dieses sogenannte „Fußballmärchen“ berührt uns. Weil es eine schöne Geschichte ist. Da düpiert ein – im Vergleich zu den „Big Five“ Manchester United, Arsenal, Chelsea (heuer nur aus finanzieller Sicht), Tottenham und Manchester City – Kleinverein die eben genannten Milliardenunternehmen. Stürmer Jamie Vardy, der vor Jahren noch achtklassig kickte, nach einer Keilerei im Pub mit elektronischer Fußfessel ausgestattet wurde und in einer Kohlefaserfabrik tätig war, wird zum Torjäger den heute jeder kennt und der England im Sommer zum EM-Titel schießen soll. Spielmacher Riyad Mahrez, Algerier und beim französischen Zweitligisten Le Havre ausgemustert, darf sich nach der irren Saison mit Leicester „Spieler der Saison“ in der Premier League nennen. Trainiert werden sie vom ruhigen Italiener Claudio Ranieri, der wegen dem Geburtstag seiner Mama extra nach Italien fliegt, zum Abendessen, und der als Griechenland-Teamchef kolossal scheiterte. Und wir Österreicher sind sowieso alle total Leicester weil „unser Fuchsl“, Teamspieler Christian Fuchs, Leistungsträger der Mannschaft ist und nach Alex Manninger (1998 mit Arsenal mit nur sieben Einsätzen) der zweite Österreicher ist, der sich Englischer Meister nennen darf. Allein mit den Biographien der eben genannten Akteure ließen sich Kitsch-Filme machen. Das Reservoir an kultigen Geschichten ist schier unerschöpflich im Umfeld von Leicester City.

Kontrast zu Titel-Maschinen

Und wir alle reden drüber. Und freuen uns mit. Der Grund muss nicht die vermeintliche Underdog-Rolle der „Foxes“ sein, denn Geld hat man dort seit Besitzer Vichai Srivaddhanaprabha auch nicht gerade wenig in die Mannschaft investiert (bisher waren die großen Namen aber aufgrund des leeren Trophäenschranks eher schwer zu ködern). Die Vermutung liegt nahe, dass es die Sättigung ist. Wir haben genug von titelsammelnden Erfolgsmaschinen und nach noch mehr Ruhm gierenden Großclubs. Es ist doch irre wenn es beim FC Bayern heißt das Team hätte heuer nichts erreicht weil man die Champions League nicht gewinnt. Nationale Titel gelten längst als Alltag und locken keinen „Mia san mia“-Jünger in gleicher Anzahl auf den Marienplatz wie der Meistercup-Pokal.

Oder, um auf der Insel zu bleiben, das Beispiel Manchester United: Laut Wirtschaftsagentur „Bloomberg“ haben die Red Devils in der zweijährigen Ära Louis Van Gaal mit 250 Millionen Pfund mehr Geld investiert als Leicester City in dessen Clubgeschichte. Das sind 132 Jahre. Zahlenspiele wie diese beweisen die eigentliche Unterlegenheit Leicsters. Und es dürfte eine gewisse Schadenfreude hinzu kommen, dass eben all diese Bonzen-Vereine, denen an der „Erschließung neuer Märkte“ für ihre Unternehmen längst mehr liegt als am Fan von der Straße. Wie jene Leicesters, die sich per Videobotschaft beim Trainer für den Titel bedankten und für die tolle Aufwertung ihrer Stadt. Und eben die angesprochenen „neuen Helden“ wie Vardy die eine so angenehme Normalität ausstrahlen im Vergleich zu den glitzernden Poster-Boys wie Cristiano Ronaldo der sich beim Champions-League-Spiel bei Manchester City auf der Ersatzbank Handyvideos ansieht. Von sich selbst. Uns interessiert sein Tor-Duell mit Messi nicht mehr, es ist uns zunehmend egal, wer von beiden innerhalb eines Jahres zuerst gefühlte tausend Mal getroffen hat!

„Leitschesta“

Kurz: wir lieben die Bodenständigkeit Leicesters. Diesen Extrem-Kontrast zum Fußball-Establishment, wir verschlingen alles um die „großartigste Fußballgeschichte aller Zeiten“ wie Englands Boulevard-Platzhirsch „Sun“ konstatierte. Weil uns der Triumph der Mannschaft daran erinnert dass die das Milliarden-System, frei nach Frank Stronach, „Wer das Geld hat macht die Regeln“, eben nicht immer funktioniert und dessen Rechnung, sich Titel mit aller Macht erkaufen zu können, aufgeht. Weil Leicester, die Stadt die wir früher noch oft wider besseren Wissens aufgrund deren sportlicher Bedeutungslosigkeit „Leitschesta“ aussprachen, uns an den „echten Fußball mit Herz“ erinnert. Was wir gern vergessen: auch die Foxes sind durch deren Besitzer Teil des britischen Mäzenaten-Systems und der Chef fährt auch nicht mit dem Radl zu den Heimspielen sondern genießt gern mal die Vorzüge des Helikopters.

Aber was ist schon dieser „Schönheitsfehler“ gegen all die romantischen Teilchen dieser unglaublichen Geschichte? Eben. Das „Wunder von Leicester“ reiht sich ein in die Kult-Serie der Triumphe Dänemarks und Griechenlands bei Europameisterschaften 1992 und 2004, dem Meistertitel von Aufsteiger Kaiserslautern 1998 oder, um es auf Österreich umzulegen, dem Cupsieg Paschings 2013. Demnächst werden noch jede Menge Superlativen und Kuriositäten ausgepackt werden, wie die Wettbüro-Legende dass die Chance, dass Leicester Meister wird so hoch eingeschätzt wurde, wie dass Elvis lebt, oder die Existenz von Loch-Ness-Untier Nessie belegt wird. Mit diese Bonmots werden wir uns im Büro beim Kaffeeautomaten unterhalten. Und wir werden sie online liken und teilen. Weil wir jetzt alle Leicester sind. Weil das alles so schön ist. Und weil wir nicht wissen wann so eine Geschichte jemals wieder passieren wird.

Philipp Braunegger, abseits.at

Philipp Braunegger

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