8.30 Uhr. Wecker? Eher unnötig. Geschlafen? Eher kurz. Heute ist Sonntag, der 19. Mai 2024 nach Christus. Pfingstsonntag. Seit Wochen denke ich nur mehr... Kommentar: Ein Erlebnisbericht von Sturms Meisterspieltag

8.30 Uhr. Wecker? Eher unnötig. Geschlafen? Eher kurz. Heute ist Sonntag, der 19. Mai 2024 nach Christus. Pfingstsonntag. Seit Wochen denke ich nur mehr von Sonntag zu Sonntag. Die alte Floskel „ich schaue von Spiel zu Spiel“ bekommt plötzlich eine völlig neue, nahezu körperlich spürbare Bedeutung. Werktags gehe ich meiner Arbeit nach, funktioniere. Sonntags: Ausnahmezustand.

Salzburg auswärts, Hartberg daheim, LASK auswärts. Kein Sieg. 2:0 in Salzburg aus der Hand gegeben, Rote für Stankovic gegen Hartberg, Jatta-Lattenköpfler in Linz… Trotzdem Tabellenführer. Aber noch nicht mehr. Heute, an diesem Pfingstsonntag, muss ein Sieg her. Austria Klagenfurt, unangenehmer Gegner. Für die geht es um genau nix. Und genau das werden sie uns spüren lassen. Gedanken wie diese sind es, die mir die ganze Woche durch den Kopf gehen. Durch den Kopf schießen, eindreschen auf sämtliche Synapsen zwischen Groß- und Kleinhirn.

Das Frühstück lass ich aus. Kaffee muss reichen. Schwarz. Eh klar. Stunden später: Mittagessen? Unmöglich. „Kann nichts mehr essen, kann das alles nicht vergessen“ von Herbert Grönemeyer klingt im Ohr. Wieder: Kaffee muss reichen.

Es ist 15.30 Uhr, ich gehe zum Stadion. Ich gehe extra eine Strecke voller Umwege und brauche nicht wie üblich 15 Minuten nach Liebenau sondern eine geschlagene Stunde. Das Gehen soll mich runterholen. Es hilft nicht. Der ganze Weg, vorbei am ORF Park und der Rot-Kreuz-Zentrale, ist wie ein endloser Stadiontunnel. Ich nehme das Handy raus und lese eine Story über einen Kater aus England der einen akademischen Titel bekommen hat weil er viele Mäuse fängt. Völligen Schwachsinn ziehe ich mir rein. Nur auf andere Gedanken kommen. Aussichtslos. Tunnelblick.

Ich erreiche das Stadion, treffe mich mit Martin. Martin ist Sturm-Fan seit 2006, als er als Student aus Hamburg in die Steiermark kam. Heute ist er ausgebildeter Soziologe. Mit ihm habe ich schon den Titel 2011 gefeiert. Ich überlege, ob ich ihn mit auf die Nord begleite oder auf die Pressetribüne gehe. Ich entscheide mich für zweiteres. Vielleicht wirkt sich die Anwesenheit von Kollegen beruhigend auf mich aus. Ich kann ja später in die Kurve kommen, sag ich zu Martin. Er ruft mir noch nach: „Der Camara macht heut a Tor!“

Auf den Presseplätzen kommt Reporter-Legende Walter Kowatsch-Schwarz auf mich zu. Er drückt mir ein kleines Steiermark-Herz in die Hand. „Stecks ein, das bringt Glück.“ Ich stecke es ein. Und hoffe.

17 Uhr. Großartige Choreo der Nord, ausgeweitet aufs ganze Stadion. Es geht los. Neben mir steht die Legende schlechthin, Mario Haas. Das ganze Spiel über. Ein gutes Omen? Sturm spielt gefällig, aber Klagenfurt ist unangenehm, setzt immer wieder Nadelstiche. Biereth und Gazibegovic finden gute Chancen vor. Tor fällt keines. Ich verlagere mein Körpergewicht abwechselnd von links auf rechts und umgekehrt. Gehe einen Schritt nach vor, einen zurück. Als ob ich in der Coaching Zone stehen würde. In Bewegung bleiben. Sitzen? Undenkbar. Pause.

In der Halbzeit sitze ich in der Presselounge. Normalerweise stehe ich immer in einer Ecke und unterhalte mich mit Kollegen. Das stehen hat doch Substanz gekostet, die Beine sind schwer und butterweich zugleich. Auf dem Bildschirm sehe ich die Tore aus Salzburg. Die Bullen führen 3:1. Nach zehn Minuten stand es schon 2:0. Stand jetzt: Salzburg: Meister. Wir: nicht. Ich rede mit niemandem. Sitze nur da. Kein Handyempfang. Nach 15 Minuten retour nach oben. Ein Gedanke dominiert: was, wenn wir nicht schaffen? Was dann?

Zweite Halbzeit. Wir brauchen ein Tor. Wir brauchen ein Tor! In den ersten fünf Minuten des zweiten Durchgangs vergeben Horvath und Böving Riesensitzer. Und in Salzburg fällt ein Tor nach dem anderen. 4:1, 5:1.

Minute 69. Eckball. Wüthrich schraubt sich hoch. Und. köpft. den. Ball. ins. Tor. Explosion. Ich finde mich in einem Knäuel bestehend aus einem Ordner, Mario Haas und ORF-Mann Hannes Kargl wieder. Jeder umarmt jeden. Sturm! führt! Rauch aus der Kurve steigt auf. Doch plötzlich: Klagenfurt drückt immer mehr. Sturm schaltet in einen Verwaltungsmodus. Wie in Linz vor einer Woche. Was das dort für Folgen hatte, ist bekannt. Die Kärntner rennen um ihr Leben. Dabei geht es für die doch um nix! Doch sie sind wahre Sportsmänner und geben Vollgas. Anders in Salzburg, wo der Noch-Meister schon 7:1 führt. Respekt LASK: so eine Charakterlosigkeit muss man erst mal bewerkstelligen.

Dann Minute 80: ein verlängerter Ball der Klagenfurter findet keinen Abnehmer. Und wird immer länger. Und länger. Vorbei an Jaros – an die Stange. Mein Herz scheint nicht mehr zu schlagen, ich fühle nichts, atme erst wieder als Johnston das Ding aus der Gefahrenzone drischt. Nachspielzeit: drei Minuten. Langer Pass auf den eingewechselten Camara. Schuss. Langes Eck. ZWEI ZU NULL! Ich kriege die Arme nicht rauf weil ich sie mir vors Gesicht halte und spüre: Ja, jetzt ist es geschafft. Mario Haas eilt nach unten Richtung Spielfeld. Er soll später die Meistermedaillen überreichen. Dann ein Pfiff. Die Ersatzbank stürmt schon Richtung Spielfeld. Doch zu früh! Nur Einwurf. Stankovic kontrolliert die Kugel, alles safe.

Dann doch: der Pfiff der ein altes Leben beendet und ein neues einleitet. Jenes als Meister. Ich stehe stumm da, klatsche zwischendurch mit Kollegen ab. Dann: ab zum Spielfeld. Ich verfolge die Tellerübergabe gemeinsam mit den Kollegen vom Sturm Echo. Als die Bierduschen absolviert sind, schlendere ich gedankenversunken zwischen den Spielern und Betreuern durch den Strafraum. Darf Hand anlegen an Meisterteller und Cup-Pokal. Bilder für die Ewigkeit. Es ist der schönste Meistertitel von allen. Weil er so verdient ist, weil er das Resultat solch großartiger Arbeit von Schicker, Ilzer und der ganzen Truppe ist. Als ich gerade auf der 16er-Linie schwarzweißes Konfetti vom Rasen aufsammle, komme ich mit dem Meistertrainer ins Gespräch. „Du glaubst nicht, was uns dieser Titel bedeutet“. Ilzer nickt, sagt: „Das alles ist für die Menschen hier.“ Ein bedeutungsvoller Satz. Jeden Buchstaben nimmt man ihm ab, dem Mann, der Sturm in einer totalen Leere vor vier Jahren übernahm und jetzt an die Spitze geführt hat.

Ich sitze noch eine Weile in der Presselounge. Spieler und deren Familien, Journalisten, Funktionäre…die Stimmung ist gelöst. Irgendwann gehe ich. Vor dem Stadion erlebe ich das Feuerwerk das in den Nachthimmel der Meisterstadt geschossen wird. Dann mach ich mich auf den Heimweg. Diesmal ohne Umwege. Mich erreichen WhatsApp-Nachrichten von den Freunden aus Karlsruhe, aus Kroatien, aus Lignano; jeder freut sich mit. Am Neufeldweg begegnet mir ein älteres Ehepaar. Der Herr hört das Feuerwerk, das noch immer erklingt, und fragt seine Frau: „Was ist denn da heute los um diese Zeit?“ Die Dame antwortet: „Ja weißt du denn nicht? Wir sind Meister.“

Philipp Braunegger für abseits.at

Philipp Braunegger

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