Das Unvorstellbare ist eingetreten. Bundestrainer Jogi Löw muss mit seiner Mannschaft bereits nach der Gruppenphase und drei enttäuschenden Vorstellungen die Heimreise antreten. Das 0:2... WM-Analyse: Deutschlands Niederlage gegen Südkorea

Das Unvorstellbare ist eingetreten. Bundestrainer Jogi Löw muss mit seiner Mannschaft bereits nach der Gruppenphase und drei enttäuschenden Vorstellungen die Heimreise antreten. Das 0:2 gegen Südkorea war der Schlusspunkt einer komplizierten WM, deren Probleme sich aber durch das gesamte Jahr 2018 gezogen haben.  Deutschland brachte auch gegen die Asiaten, die im Defensivverhalten ähnlich agierten wie Mexiko und Schweden, kein Tempo und keine Schärfe in das eigene Angriffsspiel und wirkten so erneut träge und kreativlos.
Wir analysieren die matchbezogenen Probleme gegen Südkorea im Angriffsspiel und wagen einen ersten Versuch, grundsätzliche Probleme für das deutsche WM-Debakel ausfindig zu machen. Dabei kristallisierten sich erstaunliche Parallelen zur ÖFB-Enttäuschung bei der Euro 2016 heraus.

Grundordnungen und Personal

Jogi Löw änderte an der 4-2-3-1 Grundordnung wie erwartet nichts, personell reagierte er aber wie schon vor dem Schweden-Spiel erneut, dabei war auch die ein oder andere Überraschung dabei. So musste Thomas Müller zu Spielbeginn auf der Bank Platz nehmen, für ihn auf der rechten Seite spielte Neo-Bayern Spieler Leon Goretzka. Auch Mesut Özil kehrte in die erste Elf zurück, er sortierte sich im 4-2-3-1 auf seiner „Parade-Position“ als Zehner ein. Süle ersetzte in der Innenverteidigung den gesperrten Boateng, er bildete so zusammen mit seinem Klubkollegen Mats Hummels das deutsche Innenverteidiger-Duo. Flankiert wurden die beiden von den Außenverteidigern Kimmich und Hector.
Die zweite Sechserposition neben Kroos war nach der Verletzung von Sebastian Rudy erneut vakant. Löw setzte wieder auf Sami Khedira, der nach einer schwachen Vorstellung zum Auftakt gegen Mexiko im zweiten Match gegen Schweden mit der Ersatzbank Vorlieb nehmen musste. Marco Reus auf dem linken Flügel und Timo Werner im Sturmzentrum komplettierten die DFB-Elf.

Die Südkoreaner agierten wie in den vergangenen Partien aus einer 4-4-1-1 Grundordnung heraus. Ja-Cheol Koo vom FC Augsburg bildete darin zusammen mit Superstar Heung-Min Son die vorderste Sturmlinie der Asiaten, wobei Koo im Spiel gegen den Ball sich tiefer und näher am Mittelfeld positionierte, weshalb häufig eine 4-4-1-1 Struktur zustande kam. Interessant im Pressing war auch das Verhalten vom rechten Flügelspieler Jae-Sung Lee, wie wir später noch sehen werden.
Der Salzburger Hee-Chan Hwang kam gegen Deutschland nur zu einem Kurzeinsatz und musste zu Beginn auf der Bank Platz nehmen.

Deutschlands „plötzliche“ Probleme mit tiefstehenden Gegnern

Deutschland hat sich in den vergangenen Jahren unter Jogi Löw darauf spezialisiert, spielerische Lösungen und Varianten gegen tiefstehende Gegner (bevorzugt im 4-4-2) zu entwickeln und einzustudieren. Davon hat man bei dieser Weltmeisterschaft allerdings äußerst wenig zu sehen bekommen.

Dabei agierte Südkorea zu Spielbeginn gar nicht so tief und passiv wie zum Beispiel zuletzt noch die Schweden. Es war vereinzelt sogar ein recht aktives Angriffspressing zu sehen, was wir bei dieser WM bisher ja noch fast gar nicht gesehen haben, schon gar nicht von einem Außenseiter. Aus der 4-4-2 Ordnung heraus liefen die beiden Stürmer die deutschen Innenverteidiger frontal an und zwangen sie so zu einer Aktion. Die Pressingbewegungen der jeweiligen Akteure (vor allem jene der Flügelspieler) deuteten auf ein recht klares Keilpressing hin. Soll heißen, dass die erste Maxime im Pressing lautete, das Zentrum und die Halbräume zuzustellen, damit der Gegner in die „freien“ Flügelzonen spielt, wo er dann mithilfe der Seitenlinie einfacher und effizienter unter Druck gesetzt werden kann. Obwohl die Pressingbewegungen der Stürmer sauber und dynamisch waren hatten sie das Problem, dass sie den Sechserraum nicht richtig schließen konnten. Dadurch, dass sich die Stürmer an den Positionen der deutschen Innenverteidiger orientierten, war die vertikale Gasse in den Sechserraum für Torhüter Neuer oder dem ballführenden Innenverteidiger zu oft offen. Die koreanischen Sechser blieben in mehreren Pressingsequenzen zu tief und orientierten sich nicht an den deutschen Sechsern, wodurch diese sich aufdrehen und den gesamten südkoreanischen Abwehrblock nach hinten drängen konnten. Es wäre spannend gewesen, hätten sie situativ solche Angriffspressing-Aktionen konsequenter umgesetzt. Vor allem bei Khedira hat man gesehen, dass ihm häufig die notwendige Vororientierung abgeht und daher im Zentrum von mehreren Seiten ziemlich leicht zu pressen ist. In der ersten Viertelstunde resultierte auch genau daraus eine gute Balleroberung, allerdings wurde wie so oft auch in dieser Situation der Umschaltimpuls schwach zu Ende gespielt.

Taktisch interessant war auch die Position bzw. das Verhalten des rechten Flügelspielers Lee. Im Spiel gegen den Ball sollte er immer ein Auge auf Toni Kroos werfen, der ja bekanntlich fast permanent das Spiel aus dem linken defensiven Halbraum heraus aufbaut. Das war durchaus eine kluge Idee von Trainer Shin. Er musste dadurch sein System nicht komplett umbauen, trotzdem war der Zugriff auf den deutschen Spielmacher immer gegeben, auch dank kleinen Veränderungen auf anderen Positionen. So rückte der rechte Außenverteidiger Lee Yong aus der Viererkette einige Male gut heraus und attackierte den ballführenden Hector, dessen Folgeaktionen durch den Raum- und Zeitdruck erheblich eingeschränkt werden konnten. Aber nicht nur auf Hector konnte Druck ausgeübt werden, gleichzeitig konnte auch Lee entlastet werden. Er konnte sich weiterhin an Kroos orientieren und musste nicht den Weg nach hinten zu Hector antreten, was Toni Kroos wiederum Platz und Zeit verschafft hätte. Die Druckkomponenten auf der linken deutschen Angriffsseite waren dementsprechend hoch und auch gut abgesichert, wodurch praktisch keine Angriffe über diese Seite fertig gespielt werden konnten.

In dieser Situation ist zu erkennen, dass sich Lee an der Position von Toni Kroos orientiert, dadurch entstanden vereinzelt 4-3-3 bzw. 3-4-3 Staffelungen bei den Südkoreanern. Gut und wichtig in diesem Zusammenhang war, dass der rechte Außenverteidiger mutig nach vorne auf Hector verteidigte und so neben einer Absicherung für den höher postierten Vordermann auch gleich den Druck auf den ballführenden Spieler erhöhen konnte.

Auf der linken südkoreanischen Abwehrseite gestaltete sich das Bild wesentlich vorsichtiger und passiver. Dort orientierte sich der linke Flügelspieler Moon ziemlich stark mannorientiert am deutschen Außenverteidiger Kimmich und füllte dadurch die Viererkette situativ neben dem nominellen Außenverteidiger zu einer Fünferkette auf. Dies ermöglichte Hong, sich am eingerückten Goretzka zu orientieren. Die zwei zur Ballseite verschobenen Sechser sowie der tief positionierte Koo sorgten für eine hohe lokale Kompaktheit auf dem Flügel und dem Halbraum. Ganz generell zogen sich die Koreaner im eigenen Abwehrdrittel gut zusammen und agierten in direkten Zweikampfduellen giftig und eng am Mann. Das ist ihnen am Spieltag zuvor gegen Mexiko noch völlig abgegangen.

Die deutsche Elf wird mit Sicherheit darauf vorbereitet gewesen sein, die richtigen Mittel und Räume haben sie aber erneut nicht gefunden. Jogi Löw änderte an der gewohnten Struktur nichts, es blieb daher bei der 2-2 Aufbaustruktur mit den beiden Innenverteidigern und den Sechsern, von denen Kroos wie bereits erwähnt vornehmlich aus dem linken defensiven Halbraum agierte. Sein Nebenmann Sami Khedira interpretierte seine Position wesentlich vorsichtiger als noch gegen die Mexikaner, wo er einige Male hoch mit aufrückte und so komplett das Zentrum entblößte, was logischerweise mit ein wesentlicher Grund für die schwache Konterabsicherung und Restverteidigung war. Ansonsten gab es die gewohnten Muster und Bewegungen. Mesut Özil ließ sich von seiner Zehner-Position einige Male vor das südkoreanische Mittelfeld fallen und unterstützte so die beiden Sechser im Aufbau und in der Ballzirkulation. Die Flügelspieler rückten in die Halbräume ein und boten sich dort für Zuspiele im Zwischenlinienraum an. Das große Problem dabei war, dass diese Pässe zu selten kamen. Aufgrund des gegnerischen Keilpressings mussten die Deutschen wie schon in den vorangegangenen Partien auf die Flügel ausweichen und um den Block herumspielen, wodurch das Spiel automatisch verschleppt wird und wenig Zug zum Tor ausstrahlt. Vereinzelt waren in diesem Zusammenhang die Hereingaben (vor allem von Kimmich) gut und mit der notwendigen Schärfe vor das Tor gebracht, in Summe dann aber zu inkonstant, um dadurch permanent Torgefahr ausstrahlen zu können.
Nach der ersten Partie hatte das deutsche Team bei eigenem Ballbesitz kein strukturelles Problem mehr (gegen Schweden waren in der zweiten Halbzeit sogar sehr gute Elemente wie das Einrücken der Außenverteidiger, die Dribblings von Werner, die Strafraumbesetzung oder die höhere Position von Kroos dabei), es schlichen sich aber in allen drei Spielen kleine Fehler ein, die nicht korrigiert werden konnten und das deutsche Angriffsspiel ideenlos wirken ließen.

Woran lag es wirklich?

In Deutschland wird jetzt die Zeit der Aufarbeitung und Analyse beginnen, sowohl von den Medien als auch vom Verband selbst. Plump den Rauswurf von Bundestrainer Jogi Löw zu fordern wäre genauso falsch wie alles schönzureden. Man kann aber davon ausgehen, dass dies nicht der Fall sein wird. Fakt ist auch, dass Deutschland verdient in der Gruppenphase ausgeschieden ist, allein die nackten Zahlen sprechen dafür. Mit gerade einmal drei Punkten und einer negativen Tordifferenz ist es de facto unmöglich, ins Achtelfinale aufzusteigen.
Auch die Art und Weise der Auftritte rechtfertigt das Ausscheiden nach der Gruppenphase.

Wie jeder gesehen hat, hackte es in der DFB-Elf vor allem im eigenen Angriffsspiel. Gegen alle drei Gegner, die im Defensivverhalten bezüglich Grundordnung und Intensität ziemlich gleich agierten, hatte die Mannschaft große Schwierigkeiten, aus dem geordneten Ballbesitz heraus Angriffe zu beschleunigen und so konstruktiv zwischen oder hinter die letzte Linie des Gegners zu kommen. Der 4-2-3-1 Grundordnung fehlte es an Automatismen und Tiefgangvarianten im dritten Drittel. Laufwege in die Tiefe waren in der Regel nur von einem Spieler zu sehen, was für den Gegner ziemlich leicht verteidigt und neutralisiert werden konnte. Die gruppentaktischen Abläufe in diesem Zusammenhang fehlten über sehr weite Strecken der 270 Minuten. Viele Jahre war die DFB-Elf unter Löw absolute Weltspitze in diesem Bereich, aber bei dieser Weltmeisterschaft fehlten die angesprochenen Automatismen komplett, weshalb das Spiel statisch und langsam wirkte und schließlich auch war. Es passt in diesen Kontext, dass die Ballkontaktzeiten der einzelnen Spieler gefühlt zu lang waren. Das hängt vielleicht auch damit zusammen, dass die Passverbindungen und Kombinationsmöglichkeiten nicht so gegeben waren wie gewohnt, wodurch die Schärfe und Tiefe im Spiel verloren ging. Dies ist auch wieder eng gekoppelt mit den angeführten gruppentaktischen Problemen. Dazu gesellten sich noch ungewohnt viele „unforced-errors“ im Passspiel des DFB-Teams, was weite Wege zurück zur Folge hatte und die Probleme in der schlechten Konterabsicherung (am extremsten sichtbar gegen Mexiko, danach war die Abstimmung und Aufgabenverteilung klarer) noch bestärkte.

Aber nicht nur gruppentaktisch haperte es bei unseren Nachbarn, auch die individuellen Leistungen waren als Konsequenz daraus nicht berauschend. Es war schlichtweg kein Spieler richtig in Topform und konnte bei einem derartigen Turnierverlauf auch nicht in Form kommen. Klar, dass sich hier die Frage aufdrängt, warum Löw Leroy Sane nicht berücksichtigt hat. Er hätte mit seiner Schnelligkeit und seinen Stärken in 1 gegen 1 Duellen der Mannschaft wahrscheinlich schon weiterhelfen können und ihr Facetten geben können, die dem Team so offensichtlich abgegangen sind.

Man könnte an dieser Stelle noch weiterer Punkte benennen, wie zum Beispiel die Fokussierung auf Toni Kroos. Gar nicht einmal so unter dem Blickwinkel, dass er von seinen Mannschaftskollegen permanent gesucht wurde und für die Angriffseinleitung nahezu alleine verantwortlich war. Es hätte quasi drei Toni Kroos gebraucht. Er war nämlich meist recht tief im linken defensiven Halbraum positioniert, um für die Innenverteidiger stabil anspielbar zu sein und den Ball in höhere Zonen zu transportieren. Gleichzeitig fehlte er der Mannschaft aber in höheren Zonen bzw. im Angriffsdrittel, wo seine Qualitäten im Passspiel sowie im Abschluss ebenfalls gefragt gewesen wären. Wie gesagt, es hätte mehr Toni Kroos gebraucht. Dies sagt relativ viel über den Zustand des Teams aus und ging zuletzt auch zu Lasten von Toni Kroos selbst.

Zum Schluss wurde den Löw-Jungs auch zum Verhängnis, dass sie in keinem Spiel einmal 1:0 in Führung gegangen sind. Nach einem Führungstreffer hätte der Gegner nämlich etwas aktiver und risikoreicher spielen müssen, was Räume geöffnet und den Spielfluss gefördert hätte. Stattdessen gingen sowohl die Mexikaner wie auch die Schweden und die Südkoreaner mit 1:0 in Führung und konnten sich so auf eine noch kompaktere und massivere Defensive fokussieren. Deutschland dagegen war noch mehr gefordert und ging noch höheres Risiko (Positionen der Außenverteidiger zum Beispiel) ein, was sich wiederum auf die Konteranfälligkeit auswirkte. Ein Teufelskreis.

Verblüffende Ähnlichkeiten zu Österreichs Euro-Aus

Geht man das deutsche Ausscheiden in Gedanken noch einmal durch, sind die Parallelen zu Österreichs Euro-Aus von vor zwei Jahren unverkennbar. Auch Österreich schloss die Qualifikation zum Turnier bärenstark ab, die Leistungen in den Testspielen im Turnier-Jahr waren ebenfalls sehr überschaubar und schließlich folgte der Flop bei der Endrunde. Beide Lager nahmen vorab die durchschnittlichen Leistungen in der Vorbereitung nicht wirklich ernst (zumindest in der Öffentlichkeit) und verwiesen stattdessen auf den Zeitfaktor und die Trainingsintensität.
Der ÖFB hat danach „Fehler“ in der Trainingssteuerung während der Vorbereitung eingestanden. Man habe zu lange nur auf Regeneration gesetzt, danach kamen die Spieler nicht mehr richtig aus den Startlöchern und es fehlte an Dynamik und Frische. Das schlägt sich dann natürlich in den Offensivaktionen einer Mannschaft wieder, in denen Agilität und Spritzigkeit gefragt sind.

Ob der DFB Fehler in der WM-Vorbereitung gemacht hat ist für uns reine Spekulation. Es würde aber schon ein Stück weit überraschen, denn schließlich hat das Trainerteam rund um Jogi Löw jede Menge Turniererfahrung und weiß daher, wie man eine derartige Vorbereitung periodisiert und gestaltet. Für Außenstehende fehlte es der Mannschaft aber definitiv an Frische. Es wird spannend zu beobachten sein, wie die Reaktionen in Deutschland ausfallen werden.

Sebastian Ungerank, www.abseits.at

Sebastian Ungerank

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