Mit Fußballstadien verbindet man in der Regel Emotionen: Siegesglück, Niedergeschlagenheit, nervöses Zittern und Beben, Wut, Hoffnung, Begeisterung – kurz: passionierte Massendynamik. Oft scheint es,... Ernsthaftigkeit zum Sonntag (224) – Haftort: Praterstadion [Sonderfolge]

Mit Fußballstadien verbindet man in der Regel Emotionen: Siegesglück, Niedergeschlagenheit, nervöses Zittern und Beben, Wut, Hoffnung, Begeisterung – kurz: passionierte Massendynamik. Oft scheint es, als gehe es um Leben und Tod, dabei wohnt das Publikum nur einem Wettstreit, den hoffentlich die bessere Mannschaft gewinnt, bei. Im Grunde genommen – und vor dem Hintergrund wirklich wichtiger Dinge – steht also nicht viel auf dem Spiel. Hin und wieder werden Stadien aber zweckentfremdet und dann werden aus Sportstätten, die der Unterhaltung dienen, plötzlich Orte des (echten) Grauens: 1942 sperrte die französische Polizei auf Drängen der deutschen Besatzer bei der „Rafle du Vélodrome d’Hiver“ z.B. mehr als 13.000 Juden und Jüdinnen in eine (heute nicht mehr existierende) Pariser Radsporthalle, die chilenische Militärjunta folterte zwischen September und November 1973 rund 7.000 Oppositionelle im Nationalstadion von Santiago de Chile. Und auch in der Geschichte des heutigen Ernst-Happel-Stadions findet sich eine dunkle Episode:

Nach dem viel begrüßten Anschluss an Nazi-Deutschland fanden im August ’39 die Studentenweltspiele unter anderem im Wiener Praterstadion statt. Am 1. September desselben Jahres begann der Zweite Weltkrieg mit dem deutschen Überfall auf Polen und Fußball trat (selbstverständlich) in den Hintergrund. Parallel dazu führten die Nazis Krieg gegen ihr eigenes Volk bzw. gegen jene, die sie von vornherein als nicht zu diesem zugehörig erachteten.

Nachdem die Gefängnisse überfüllt waren, verschleppte die Wiener Polizei Anfang September 1939 über 1.000 jüdische Männer, die als „Staatenlose“ galten oder die polnische Staatsbürgerschaft besaßen, weil sie nach dem Zusammenbruch der österreichisch-ungarischen Monarchie (vorwiegend) aus dem ehemaligen Galizien nach Wien kamen, in die Katakomben des Praterstadions. Die Situation der Häftlinge war mehr als trostlos: Ihre „Betten“ bestanden aus Strohunterlagen, die Verpflegung war karg und die Wärter schreckten vor Prügel nicht zurück. Darüber hinaus gab es keine Möglichkeit die Sanitärräume zum Duschen oder Rasieren zu nützen. Manche Häftlinge mussten bei immer kühleren Temperaturen sogar im Freien schlafen, den Rasen zu betreten war strengstens verboten. Keiner der Männer wusste, wie es weitergehen würde und was sie überhaupt verbrochen hatten.

Einige der „staatenlosen“ bzw. polnischen Juden wurden während dieser Haftzeit im Praterstadion auch Opfer pseudowissenschaftlicher Forschung: Dr. Josef Wastl, Ex-Olympionike und promovierter Anthropologe, pickte sich 440 Häftlinge für seine Untersuchungen heraus. Wastl, der früher Wettkampfschwimmer war, hatte einst seine Dissertation über „Anthropologische Untersuchungen an 525 kriegsgefangenen Baschkiren“ verfasst und vermaß nun die gefangenen Juden des Praterstadions auf „Rassemerkmale“. Der Leiter der anthropologischen Abteilung des Naturhistorischen Museums Wien und sein Team fertigten über 700 Fotos an und füllten 400 Messblätter mit biografischen und biometrischen Daten aus – Aktenvermerk „Juden Stadion“.

Einer von den Begutachteten war Gustav Pimselstein, der sechzehnjährig gemeinsam mit seinem Vater verschleppt wurde. Am 30. September wurden sie mit den übrigen Häftlingen in das Konzentrationslager Buchenwald überstellt. Pimselstein wurde 1940 entlassen und flüchtete anschließend nach Israel, wo er seinen Namen in Gershon Evan änderte. Später zog er in die USA. Sein Leben, das sich einst von einem auf den anderen Tag geändert hatte, schrieb er in „Winds of Life. Destinies of a Young Viennese Jew 1938-1958“ nieder. 2015 starb Evan mit 91 Jahren in San Jose, Kalifornien – ein vertriebener Sohn der Stadt Wien.

Über die kurze Haftzeit berichtete Evan in seinen Lebenserinnerungen, dass sich die Gefangenen mit Schachspielen aus Brot geformten Figuren und Spekulationen über ihre Zukunft abgelenkt hatten. Die Angst war immer gegenwärtig. Gegen Ende September konnten sie aus dem abgezäunten Bereich des Sektors B Rasenpflege beobachten, da dämmerte es so manchem, dass ein Aufbruch in eine wohl schrecklichere Zukunft bevorstand. Tatsächlich wurden die Häftlinge am Wiener Westbahnhof in Züge gepfercht, während im Praterstadion von lokalen Vereinen wieder Fußball gespielt wurde. Nur 26 Unschuldige der Polizeiaktion im September ’39 sollten die Befreiung 1945 erleben. Heute erinnert eine Gedenktafel am Ernst-Happel-Stadion an jene Ereignisse, die weder auf Sportanlagen noch irgendwo sonst stattfinden sollten.

Marie Samstag

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