Düsseldorf, Minute 84. Deutschland führte 3:1 gegen Belgien und Teamchef Joachim Löw wechselte Ilkay Gündogan ein. Im Grunde genommen stimmt „wechseln“ nicht, in Wahrheit... Nationalteams werden zu Vereinsmannschaften – Gefahren und Möglichkeiten der Nationenwechsel

Düsseldorf, Minute 84. Deutschland führte 3:1 gegen Belgien und Teamchef Joachim Löw wechselte Ilkay Gündogan ein. Im Grunde genommen stimmt „wechseln“ nicht, in Wahrheit bürgerte er den Deutsch-Türken fußballrechtlich ein.

Europa ist eine beliebte Migrationsdestination und damit auch Österreich. Von den mehr als acht Millionen Österreichern, die derzeit hier leben, haben 1,5 Millionen Menschen oder 18 Prozent der Bevölkerung Migrationshintergrund. Das letzte Wort des vorangegangenen Satzes heißt, dass entweder sie direkt nach Österreich gekommen sind oder die Eltern zugewandert sind. Der Umstand, dass dies nicht selten geschieht, schlägt sich auch im Nationalteam nieder. Mit Ekrem Dag, Aleksandar Dragovic, David Alaba, Zlatko Junuzovic, Veli Kavlak und Marko Arnautovic hatten gleich sechs der vierzehn am Dienstag eingesetzten Akteure Migrationshintergrund. Fast die Hälfte der Kicker stammt also aus Familien, die erst in den letzten Jahren und Jahrzehnten gekommen sind. Ein möglicher Grund: Das Lohnniveau bei MigrantInnen bei der letzten Erhebung 2008 war um 15 Prozent niedriger, als bei Menschen ohne Migrationshintergrund. Und talentierte Kicker aus Zuwandererfamilien sehen wohl im Fußball mehr Chancen, Geld zu verdienen, investieren mehr in die Schulung ihrer individuellen Fähigkeiten.

Leichter Weg zur Staatsbürgerschaft

Kinder erlangen im Heimatland der Eltern leicht die Staatsbürgerschaft. Ein Austro-Serbe wie Marko Arnautovic hätte aufgrund der familiären Wurzeln kein Problem gehabt, die serbische Staatsbürgerschaft zu erlangen und fortan für Serbien zu spielen. Bis 2009 musste sich ein Kicker bis zum Ablauf der Spielberechtigung für die U21-Mannschaft entscheiden, für welches Land er spielen wolle. Die FIFA kippte diese Regelung und so lange kein Bewerbsspiel für die A-Nationalmannschaft absolviert wurde, können Doppelstaatsbürger frei wählen, für welches Land sie auflaufen. Ein prominentes Beispiel ist Jermaine Jones, der zwar drei Freundschaftsspiele für Deutschland machte, sich aber nach 2009 dafür entschied, das Teamdress der USA anzuziehen. Ist dann in einem Bewerbsspiel auch nur ein Minütchen gespielt worden, gilt der jeweilige Spieler als eingebürgert.

Das türkische Modell

In Köln unterhält der türkische Verband ein eigenes Büro, welches Auslandstürken sucht, die eingebürgert werden können und dann für das Heimatland der Eltern spielen dürfen. Bereits Jugendliche der U15 werden zu Lehrgängen eingeladen, skurrilerweise führt das dazu, dass das Training türkischer Nachwuchsmannschaften sowohl auf Deutsch als auch auf Türkisch abgehalten wird. Türkisch sprechen nämlich nicht alle Jungkicker. Das Modell „Deutsch-Türke“ ist ein bekanntes, am Wochenende waren im Kader der Italiener zwei „Argentino-Italiener“, in der französischen Nationalmannschaft spielen schon traditionell viele Spieler aus den ehemaligen Kolonien und dem Magreb.

Grundlagen der FIFA

Das alles funktioniert deshalb gut, auch wenn der Spieler keine Staatsbürgerschaft besitzt, weil die FIFA-Bestimmungen sehr locker sind. Bereits ein Großelternteil reicht aus und der Verbandswechsel ist möglich. Das ist aber eben erst seit 2009 möglich, da wurde der Absatz 8 der FIFA-Ausführungsbestimmungen geändert. Bei Rapid-Kapitän Steffen Hofmann fiel das dem ÖFB vor der EM 2008 auf den Kopf. Der in Hochform agierende Deutsche hatte aber schon für die DFB-Jugend gespielt, dadurch war das damals nicht möglich. Heutzutage wäre das alles überhaupt kein Problem. Solange die Staatsbürgerschaft verliehen wird – und da sind die Ministerien bei Sportlern, Europa auf und ab, sehr schnell – dürfen Spieler den Verband wechseln. Der Wortlaut im Detail:

Besitzt ein Spieler mehrere Staatsbürgerschaften, erhält ein Spieler eine andere Staatsbürgerschaft oder ist er aufgrund seiner Staatsbürgerschaft für mehrere Verbände spielberechtigt, so steht diesem […] das einmalige Recht zu, die Spielberechtigung für Länderspiele eines anderen Verbandes, dessen Staatsbürgerschaft er besitzt, zu erlangen.

Kritik an der neuen Bestimmung

Diese Entwicklung ist kritisch zu beobachten. Zum Einen kann es sein, dass nun Einwanderungsländer Spieler verlieren, Stichwort Nuri Sahin. Zum Anderen suchen Verbände gezielt nach Spielern. Erdal Keser, Leiter des Büros des türkischen Verbandes in Köln, meinte wegen möglicher Spannungen mit dem deutschen Verband: „Die Spielertypen, die wir im türkischen Fußball brauchen, sind ganz andere, als die der DFB braucht. Wir brauchen Defensiv- oder Abwehrspieler. “ Ganz im Stil eines Sportdirektors eines x-beliebigen Vereins sucht Keser also nach Spielertypen, die sein Verband braucht. Wird es nun in Zukunft so sein, dass Verbände alle großen Profiligen abgrasen, um die Großmutter aus dem Heimatland zu suchen? Kann beispielsweise Joachim Löw einen Rechtsverteidiger suchen lassen, der dem Nationalteam helfen kann? Werden vor Großereignissen Staatsbürgerschaften verschenkt wie Lutscher? Die neuen Bestimmungen lassen dies auf jeden Fall zu.

Eine Verfälschung des Wettbewerbs?

Natürlich ist es so, dass die Nationalstaaten ein mehr oder weniger überholtes Modell sind, gesellschaftlich aber wichtig sind. Wie sehr freute sich beispielsweise Griechenland nach Wochen und Monaten der Negativschlagzeilen über die Wirtschaftlage über die Qualifikation zur Europameisterschaft! Wenn aber nun im nicht immer planbaren Fußballgeschäft Spieler gesucht werden, kann das passieren. Einerseits sind Geschichten, wie sie zum Beispiel Serdar Tasci noch vor 2009 geschahen nicht optimal. Der junge Mann aus Esslingen am Neckar, der nur über die deutsche Staatsbürgerschaft verfügt, spielte für die deutsche U21 und das in der Hoffnung, Innenverteidiger in der DFB-Elf zu sein. Im türkischen Nationalteam hätte er einen Stammplatz, in Deutschland gilt er bereits als „Ex-Nationalspieler“. Andererseits widerspricht die großzügige Regelauslegung dem Prinzip „Nationalmannschaft“.

Chance für kleine Nationalteams?

Beispiel Moritz Leitner: Der begabte Jugendliche aus dem Nachwuchs des TSV 1860 München, der über Augsburg zum BVB kam, verlebte ähnlich wie Martin Harnik seine Jugend in Deutschland. Man darf gespannt sein, ob er nicht doch noch für Österreich spielen wird, wenn „unser“ Team Erfolg haben sollte und ihm Götze, Müller, Özil und Co. vorgezogen werden. Trotzdem mutet es nicht gerade fair an, wenn Land A Spieler um Spieler in den Nachwuchsteams (mit-)ausbildet und sich dann ansehen muss, wie diese Kicker plötzlich gegen das Ausbildungsland spielen. Der Wert eines nationalmannschaftlichen Vergleichs wird dadurch gemindert.

Die Bestimmungen der FIFA können gut und sinnvoll sein – ja. Ein Feilschen und Schachern um Teamspieler ist abzulehnen. Der Zusatz mit Eltern und Großmutter in den Ausführungsbestimmungen der FIFA ermöglichen das und es kann sein, dass damit die Büchse der Pandora geöffnet wurde, man möge nur einmal „Deutschland“, „Ghana“ und „Boateng“ googlen.

Georg Sander, abseits.at

Daniel Mandl Chefredakteur

Gründer von abseits.at und austriansoccerboard.at | Geboren 1984 in Wien | Liebt Fußball seit dem Kindesalter, lernte schon als "Gschropp" sämtliche Kicker und ihre Statistiken auswendig | Steht auf ausgefallene Reisen und lernt in seiner Freizeit neue Sprachen

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