Eigentlich wollte ich heute einen schönen Abend verbringen, ich wollte einen Corona-Schnelltest machen, mich in ein Lokal nahe des Donaukanals setzen, ein Bier trinken,... Nur eine Beleidigung – Kommentar zur Berichterstattung zur Arnautović-Sperre

Eigentlich wollte ich heute einen schönen Abend verbringen, ich wollte einen Corona-Schnelltest machen, mich in ein Lokal nahe des Donaukanals setzen, ein Bier trinken, auf die Fußball-Leinwand schauen und mit bebendem Herzen hoffen, dass Österreich Zählbares aus Amsterdam mitnehmen kann oder sich zumindest gut verkauft. Aber dann habe ich – pflichtschuldig – doch in die von mir abonnierten EM-Podcasts gehört, die ORF-Vorberichterstattung verfolgt und wurde Zeugin der Diskussion rund um Marko Arnautović‘ UEFA-Sperre. Der Tenor ist für mich so überraschend einhellig, dass ich mich doch an den Computer setze um diesen zu kommentieren.

Ich hätte nie gedacht, dass ich so etwas sage. Vielleicht liegt es ja wirklich am Alter: Als Kind erklärte ich meiner Mutter, wenn sie sich über „Notbremsen“ im Strafraum oder systematische Buhrufe von der Tribüne echauffierte, das sei eben Fußball, gehöre dazu und sie solle sich nicht so aufregen. Rund 20 Jahre später merke ich, wie mich diese Vorkommnisse selbst immer mehr tangieren. Sie stören mich. Aber nicht so sehr, wie mich die Doppelmoral vieler Beteiligter stört: Pyrotechnik wird medial zum Teufelszeug deklariert während Spieler als „Humankapital“ hochgejubelt, verscherbelt und wieder fallengelassen werden, Kicker verlesen Anti-Rassismus-Statements, Vereine verpflichten sich zu Financial-Fair-Play nur damit es in der Realität ganz anders aussieht und bei einer Verhöhnung des Gegners heißt es, dass seien eben nur Emotionen, unterdessen läuft auf der Werbebande „UEFA – Respect!“ wie eine leere Versprechung vorbei. Gelebte Doppelmoral.

Anlässlich der Ein-Spiel-Sperre von Marko Arnautović waren sich sämtliche Befragte einige: Es ist doch nichts passiert. Fußball sei ein „Kampfsport“. Beleidigungen kommen auch im Training vor: Wo kämen wir hin, wenn man all diese ahnden würde? Marko sei eben einer jener Typen, die wir im Fußball so schmerzlich vermissen. Er brauche das ja auch irgendwie, er wachse durch solche Sticheleien über sich hinaus.

Wirklich? Ist es so einfach?

„Zizou“ wird es blunzn sein, aber mit jenem Kopfstoß im WM-Finale gegen Italien habe ich sehr viel Respekt vor dem dreimaligen FIFA-Weltfußballer verloren. Man kann getrost annehmen, dass diese Aktion seinem Land vermutlich den Titel gekostet hat. Warum ich solche Aussetzer nicht verstehe? Wir leben im 21. Jahrhundert, der Mensch ist schon lange vom krabbelnden Ur-Menschen zum sprechenden, handelnden, mitfühlenden Experten für eh alles aufgestiegen. Mittlerweile werden 22 Männer, die einem Ball hinterherlaufen mit so viel Zahlungsmitteln überschüttet, dass diese mit dem Ausgeben nicht nachkommen. Die Welt hat sich verändert: Der Muskel zwischen den Ohren zählt in der westlichen Hemisphäre mehr als alles andere. Ein Neandertaler mit Keule fände sich hier kaum mehr zurecht. Das Pausieren von Ur-Instinkten hat für den Menschen nicht nur positive Folgen, aber ein Fußballer, der von einem Gegenspieler provoziert wird, tut gut daran seine Wut in sportliches Argumentationspulver umzuwandeln.

Aus diesen Gründen scheint es mir rätselhaft, warum sich erfahrene Kicker – Zidane war im WM-Finale 2006 34 Jahre alt, „Arni“ zählt seit dem 19. April diesen Jahres 32 Lenze –  in so wichtigen Partien durch blöde Sprüche, die nur auf Revanche-Aktionen abzielen, provozieren lassen. Beide Spieler sind so talentiert, dass sie wahrscheinlich schon in ihrer frühen Jugend erfahren mussten, dass manche Gegner sie mit unfairen Mitteln – Rotgrätschen, Auf-die-Zehen-Steigen und eben auch mit Bosheiten verbaler Natur – zu stoppen versuchen. Im Laufe der Zeit muss man doch eine gewisse Resilienz entwickeln bzw. verstehen, dass diese Sticheleien nicht auf fruchtbaren Boden fallen dürfen, weil man sich sonst nur selbst schadet. Spieler müssen im Fußball ihren Verstand genauso wie ihre körperlichen Fähigkeiten einsetzen.

Herbert Prohaska hat über den Umgang mit seinen Schützlingen als Trainer gesagt: „Das Wichtigste ist für mich, dass ich an die Intelligenz des Spielers appelliere. Ich meine, dass wenn er wie ein Mann behandelt werden möchte, dann soll er sich auch wie ein Mann benehmen.“ Ich vermisse genau das in der Berichterstattung: Warum appelliert niemand an die Reife der Kicker? Andy Ogris oder Stefan Maierhofer gaben einst zu Protokoll, dass sie Schmähungen von der Tribüne nur weiter motiviert haben. Genau daran sollten Sportler in ihrer menschlichen Entwicklung arbeiten, sie dürfen sich nicht durch das Publikum oder den Gegner aus der Ruhe bringen lassen. Unsre moderne Gesellschaft ist nur zum Schein befriedet, trotzdem muss man in diesen Fällen Verantwortung übernehmen. Das fällt natürlich leichter, wenn die Öffentlichkeit faux-pas dieser Art nicht (nur) zu erklären oder gar zu verniedlichen versucht.

Zurück zum Thema: Als reif und erwachsen erwies sich jedenfalls Arnautovic´ Reaktion nach dem Spiel. Marko verlautbarte via social media: „Es gab leider Provokationen, auf die ich zu stark reagiert habe, aber auch die sind keine Rechtfertigung für das, was passiert ist.“ Lieber Marko, damit hast du es auf den Punkt gebracht. Noch so eine Sache von der ich nie geglaubt habe, dass ich sie einmal sage. Es liegt wahrscheinlich wirklich am Alter. Oder an der zunehmenden Reife.

Marie Samstag, abseits.at

Marie Samstag