Jeden Sonntag wollen wir in dieser Serie Spieler beleuchten, die ungewöhnliche Wege eingeschlagen haben. Wir möchten Geschichten von Sportlern erzählen, deren Karriere entweder im... (Wo)Men to (re)watch (44) –  Briana Scurry (KW 44)

Jeden Sonntag wollen wir in dieser Serie Spieler beleuchten, die ungewöhnliche Wege eingeschlagen haben. Wir möchten Geschichten von Sportlern erzählen, deren Karriere entweder im Konjunktiv stecken blieb, die sich zu einem gegebenen Zeitpunkt radikal verändert haben oder sonst außergewöhnlich waren und sind: Sei es, dass sie sich nach dem Fußball für ein völlig anderes Leben entschieden haben, schon während ihre Profizeit nicht dem gängigen Kickerklischee entsprachen oder aus unterschiedlichen Gründen ihr Potenzial nicht ausschöpften. Auf jeden Fall wollen wir über (Ex)-Fußballer reden, die es sich lohnt auf dem Radar zu haben oder diese (wieder) in den Fokus rücken. Wir analysieren die Umstände, stellen Fragen und regen zum Nachdenken an: Nach Megan Rapinoe, Mia Hamm und Brandi Chastain ist der heutige Artikel einer weiteren US-Amerikanerin gewidmet…

An den Moment, der ihr Leben für immer verändern sollte, erinnert sich Briana Scurry nicht mehr. Es war der 25. April 2010, als sie im linken Teil des Strafraumes einen halbhohen Ball fangen wollte. Dann: Filmriss. Plötzlich lag sie am Boden, verschlungen in die gegnerische Stürmerin von Philadelphia Independence, aber die Kugel sicher in ihren Armen. Scurry stand auf, die Schiedsrichterin deutete: „Weiter machen!“, also schoss sie aus. Doch plötzlich war alles anders: „Die Nummern und die Namen auf den Dressen vor mir fingen an zu verschwimmen. Ich kam aus der Balance, fühlte mich auf einmal krank. Ich wusste, es war etwas passiert.“

Schachdame und Karatekid

Niemand ahnte damals, dass es das letzte Fußballmatch für die zweifache Olympiasiegerin und Weltmeisterin als aktive Torfrau sein würde. Die Spätfolgen – ein finanzieller Bankrott und Depressionen – stürzten die Amerikanerin außerdem beinahe in den Selbstmord. Im letzten Moment kratzte sie die Kurve, dabei war Scurry Gegenwind eigentlich seit ihrer Kindheit gewohnt.

Geboren wurde die spätere Profisportlerin am 7. September 1971 als jüngstes von neun Kindern in Minneapolis. Als sie ein Kleinkind war, zog ihre Familie in einen Vorort, in dem sonst nur weiße Leute lebten, um. Ein Vorzeichen für Brianas späteres Leben: „Seit damals war ich immer in der Minderheit; egal bei welcher Sache.“ Ihre drei Brüder und fünf Schwestern passten zwar besonders auf das Baby der Familie auf, doch nachdem sie mit einer Gleichaltrigen in Streit geraten war, meldete sie ihre Mutter im Karatekurs an, damit sie sich auch selbst verteidigen konnte.

Im Alter von zwölf Jahren dachte Brianas erster Fußballtrainer, dass das Tor die sicherste Position für das einzige Mädchen seines Teams sein würde und beorderte Scurry zwischen die Pfosten. In der High School spielte Briana schließlich auch Softball, Feldhockey und Basketball und nahm an Geländeläufen teil. Als Torhüterin ihrer Schulmannschaft gewann sie 1989 die Landesmeisterschaft von Minnesota und wurde von rund 70 College-Mannschaften umworben. Coach Jim Rudy holte sie an die University of Massachusetts, nachdem er von ihrer Athletik und ihren akrobatischen Fähigkeiten beeindruckt war: „Sie war nicht sehr gut mit den Füßen, bei den Abschlägen, z.B. Aber sie war eine unglaubliche Sportlerin und konnte fast fliegen.“

„Bri“, wie sie gerufen wurde, arbeitete hart an sich und entdeckte, dass das Torwartspiel mehr war, als einem Ball hinterherzuhechten: „Das Wichtigste, die erste Aufgabe eines Keepers überhaupt ist es die Verteidiger immer richtig zu positionieren.“ Scurry sah Fußball als Schachspiel; agierte als schwarze Dame – analytisch, kompromisslos. Ihre katzenartigen Reflexe sollten aus ihr eine der besten Torhüterinnen weltweit machen.

1994 fing Scurrys vierzehn Jahre andauernde Karriere im US-amerikanischen Nationalteam an. Ein Jahr später wurde sie Dritte bei der Weltmeisterschaft und 1996 – nachdem sie jede Minute des Turniers absolviert hatte – Olympiasiegerin. Bei der Weltmeisterschaftsendrunde 1999 folgte dann ihr großer Auftritt: Im Finale gegen China hielt sie den Elfmeter von Liu Ying und öffnete so das Tor zum WM-Titel im eigenen Land. „Normalerweise sehe ich die Spielerin, die mir gegenübersteht nie an.“, erinnert sich die langjährige Teamtorfrau: „Aber damals sah ich sie an und wusste: ,Das war‘s.‘ Ich sah es an ihrer Art, an ihrem Gang, ihre Schultern hingen. Es war beinahe so, als würde ein neonfarbenes Licht hinter ihr blinken: ,Gehalten! Gehalten! Gehalten!‘ Tatsächlich – wie es viele Sportler beschreiben – hat es sich wie in Zeitlupe angefühlt.“ Nachdem Brandi Chastain daraufhin den entscheidenden Elfer verwandelt hatte, explodierte das Stadion. Die US-Girls machten den Frauenfußball mit diesem Sieg um ein Eckhaus populärer als er in ihrem Heimatland schon war. Es folgte eine ausgiebige Siegestour durch die Staaten – inklusive Besuch im Weißen Haus und Talkshow-Auftritten. Scurry jedoch musste sich auch Kritik gefallen lassen: So thematisierte die New York Times, dass die damals 27-jährige beim gehaltenen Elfmeter vor dem Abschlagen des Balls durch die chinesische Spielerin die Torlinie regelwidrig verlassen hatte. Ihre entscheidende Rolle an diesem heißen Nachmittag geriet in den Hintergrund: Brandi Chastain und ihr Sport-BH oder Nike-Athletin Mia Hamm waren die nationalen Lieblinge. So manche/r ortete rassistische Untertöne und selbst Mutter Scurry meldete sich zu Wort und meinte, ihr Nesthäkchen würde weniger im Rampenlicht stehen, weil es schwarz war.

Briana wiegelte damals ab: „Meine Mutter ist in dieser Richtung etwas vorgefasst. Sie wird immer denken, ich würde nicht genügend Anerkennung bekommen.“ Die Torfrau selbst sprach davon nun ihren Traum von einem Wechsel in die US-Frauen-Basketballliga zu verwirklichen. Dieser Ballsport sei ihre eigentliche Liebe, gab sie zu Protokoll. Doch stattdessen gehörte Scurry zu den Gründungsmitgliedern der WUSA, der ersten Frauenprofiliga der Vereinigten Staaten. Sie spielte drei Saisonen lang ab 2001 für Atlanta Beat und wurde 2003 als Torfrau der Saison ausgezeichnet. Nach dem Bankrott der Liga lief sie in deren Nachfolgeprojekt für Washington Freedom auf, wo es im Frühling 2010 zu jenem Zwischenfall kam.

Goldmedaillen beim Pfandleiher

Anfangs wurde eine Gehirnerschütterung bei der Sportlerin diagnostiziert. Scurry fiel zunächst eine Woche aus. Dann pausierte sie sechzig Tage, dann war ihre Karriere vorbei. Die Symptome – Gedächtnisverlust, Gleichgewichtsprobleme, Schlaflosigkeit – waren nicht in den Griff zu kriegen. Die Ex-Torfrau bewegte sich nur mehr zwischen Reha und Bett, doch es wurde nicht besser. Selbst später, als sie begann Kinder zu trainieren, kämpfte sie abends mit brutalen Kopfwehattacken. Das Schlimmste für die Frau, die ihre mentale Stärke einst ihre Superkraft nannte, war aber, dass sie seit dem Zwischenfall ängstlich und unsicher geworden war. Ihre Teamkameradinnen hatten sie einst „The Wall“ genannt, jetzt fühlte sich Scurry wie ein herrenloser Ziegelstein.

Ihre Versicherung weigerte sich Behandlungskosten zu übernehmen, Scurry brachte in drei Jahren ihr gesamtes Vermögen durch um zu überleben. Sogar ihre Olympischen Goldmedaillen musste sie zum Pfandleiher bringen, um sich wenigstens für ein paar Monate ihren Unterhalt zu sichern. 12.000 Dollar waren die Zeugnisse harter Entbehrungen wert. Irgendwann wusste die Doppel-Olympiasiegerin nicht mehr weiter und dachte an Selbstmord.

Letztendlich rettete sie ihre Familie: „Die Vorstellung, dass jemand meiner Mom, die an Alzheimer leidet, sagen muss, dass ihre Jüngste gestorben ist, hat mir das Herz gebrochen.“ Scurry beschloss weiterzukämpfen, wie sie es immer getan hatte. Sie kontaktierte eine PR-Firma, die ihren Fall in die Öffentlichkeit brachte. Für patriotische Amerikaner war es undenkbar, dass eine Weltmeisterin und Olympiasiegerin im Stich gelassen wurde. Schließlich gab die Versicherung dem öffentlichen Druck nach und ermöglichte der Ex-Teamtorhüterin Behandlungen, die sie zuvor als „experimentell“ abgelehnt hatte. 2012 war eine Operation am Hinterkopf Brianas erster Schritt zurück in ein Leben frei von Schmerztabletten. Die ehemalige Fußballerin entdeckte in dieser Zeit ihr Motivationstalent und arbeitet seitdem als Rednerin. Sie verliebte sich in die Chefin jener PR-Firma, die sie pro bono vertreten hatte, heiratete sie 2018 und wurde Stiefmutter von zwei Kindern. Selbst ihre versteigerten Goldmedaillen konnte sie zurückkaufen. Stolz präsentiert sie diese auf dem Cover ihrer Autobiografie, die sie „My greatest save“ genannt hat.

Brianna Scurry lebt heute in Virginia, arbeitet als Co-Trainerin und sagt, sie sei so glücklich wie noch nie. Doch, wenn sie auf die Zeit der Weltmeisterschaft 1999 zurückblickt, vermutet sie heute schon, dass ihr aufgrund ihrer Hautfarbe und sexuellen Orientierung nicht jene Anerkennung zu teil wurde, die sie als Hauptprotagonistin des Finales eigentlich verdient gehabt hätte. Ende des 20. Jahrhunderts war das weiße Amerika noch nicht bereit eine lesbische Farbige als Nationalheldin zu feiern. Hoffentlich wäre das heute anders.

Marie Samstag