Von allen Mannschaften in Gruppe H könnten die Polen unterm Strich die stabilste sein. Aber ein WM-Stammgast ist die Elf von Adam Nawalka trotzdem... WM-Analyse Polen: Das große Bangen um Kamil Glik

Von allen Mannschaften in Gruppe H könnten die Polen unterm Strich die stabilste sein. Aber ein WM-Stammgast ist die Elf von Adam Nawalka trotzdem nicht. Die glorreichen Zeiten der 70er- und 80er-Jahre sind lange passé und Polen ist heuer erstmals seit 2006 bei einer Endrunde dabei. Für langsam aber sicher alternde Stars wie Lewandowski (29), Krychowiak (28) oder Glik (30) ist (bzw. wäre) das Turnier in Russland etwas ganz Besonderes. Und Letzterer ist die große Schlüsselpersonalie für die Polen.

Die Polen stellen heuer eine gut eingespielte und körperlich starke Mannschaft, die auch formativ sehr flexibel ist. Das 4-2-3-1 ist Nawalkas Grundformation, aber in den Testspielen vor der WM griff er immer wieder auf ein 3-4-3 zurück, in dem die Außenverteidiger auf Mittelfeldhöhe spielten. Situative Systemänderungen wären bei den Polen demnach nicht verwunderlich. Da die Mannschaft schon lange zusammenspielt, wird es hier auch keine Abstimmungsprobleme geben.

Die Generalprobe auf die WM gewann Polen am vergangenen Dienstag gegen Litauen. Der Außenseiter wurde klar und deutlich mit 4:0 besiegt – übrigens in ebendiesem alternativen 3-4-3-System. Auch davor präsentierten sich die Polen gut, holten ein 2:2 gegen starke Chilenen, bei dem vor allem die erste Halbzeit für den Langzeit-Teamchef sehr zufriedenstellend war. Gegen Südkorea gelang ein 3:2-Last-Minute-Sieg, wobei die Asiaten sich sehr tief einigelten und phasenweise destruktiv spielten.

Sicherer Rückhalt von Juventus Turin

Klarer Einserkeeper der Polen ist Wojciech Szczesny von Juventus Turin. Der 28-Jährige war praktisch bei all seinen Klubs Stammkeeper, zuerst bei Arsenal, dann bei der Roma und schließlich auch in Turin, wo er immer wieder Gigi Buffon vertrat. Für den zweiten Keeper Lukasz Fabianski gibt es kein Vorbeikommen.

Die große Ungewissheit um Abwehrchef Glik

Ungewissheit bis zum Ende herrscht in der polnischen Innenverteidigung. Kamil Glik ist unumstrittener Abwehrchef der Polen und eine enorm wichtige Aufbau- und Organisationsinstanz. Allerdings verletzte sich der 30-Jährige vor etwa zwei Wochen beim Versuch einen Fallrückzieher zu machen an der Schulter und ist weiterhin fraglich. Ob Glik spielen kann, entscheidet sich demnach erst morgen, einen Tag vor dem Spiel gegen den Senegal. Würde der Monaco-Legionär ausfallen, dürfte Jan Bednarek von Southampton als Abwehrchef nachrücken. Der 22-Jährige hat allerdings erst drei Länderspiele auf dem Buckel und ist bei den Saints in seiner Premier-League-Erstsaison bei weitem kein Stammspieler. Dies wäre also eine deutliche Schwächung der Polen. Allerdings wäre auch ein halbfitter Glik nicht gerade unproblematisch. Fix gesetzt ist jedenfalls – neben dem jeweiligen Abwehrchef – Zweikampfmaschine Michal Pazdan von Legia Warschau. Der 30-Jährige ist eher ein Mann fürs Grobe, aber eine echte Kämpfernatur und bereits seit mehreren Jahren im polnischen Team gesetzt.

Solide Kräfte auf den Außenverteidigerpositionen

Auf der rechten Abwehrseite ist Lukasz Piszczek von Borussia Dortmund gesetzt und bringt jede Menge Routine mit. Er ist der Mann für die „sicherere“ Seite der Polen, denn links spielt mit dem 28-jährigen Maciej Rybus ein Außenverteidiger mit ausgeprägterem Offensivdrang. Wenn auch auf der rechten Seite mehr Offensivkraft gefragt ist, kann Trainer Nawalka auch Bartosz Bereszynski von Sampdoria Genua bringen, um die Flügelpositionen symmetrischer zu gestalten. Der starke Flügelfokus der Polen macht diese Position jedenfalls sehr wichtig, wobei man sicher schon mal besser besetzt war. Dennoch sollten die Außenverteidiger im Vergleich zu den Gruppengegnern zum High End zählen. Im größeren Vergleich fallen sie dann aber doch deutlich gegenüber Top-Teams ab.

Starke Zentralachse

Die Mittelfeldzentrale der Polen präsentiert sich sowohl kampf- als auch spielstark. Grzegorz Krychowiak von West Bromwich ist der defensivste Akteur und zudem der Spieler, der Einfachheit ins Spiel bringt. Er weist stets hohe Passquoten auf, macht keine außergewöhnlichen Dinge und erobert zahlreiche Bälle. Sein Stellungsspiel ist für die Polen sehr wichtig und kommt dem 23-jährigen Karol Linetty zugute. Der Nebenmann des routinierten Krychowiak spielt für Sampdoria Genua und ist auf der Doppelsechs für die vertikalen Pässe zuständig. Durch seine hohe Passqualität ist er ein wichtiger Spieler für das Umschaltspiel der Polen. Der beste und wichtigste Mann im zentralen Mittelfeld ist aber der offensive Mittelfeldspieler Piotr Zielinski. Der Napoli-Legionär ist eindeutig der dominanteste Akteur im Zentrum der Polen, ein dribbelstarker Zielspieler und auch der Akteur, der sich gut zwischen den Linien bewegt. Allerdings lässt er beim Nationalteam bisher Effektivität vermissen. Sämtliche denkbare Ersatzleute fallen im Vergleich zu diesen drei Spielern deutlich ab, so zum Beispiel Jacek Goralski von Ludogorets Razgrad.

Große Kaderdichte an den Flügeln

Der 30-jährige Kamil Grosicki von Hull City sollte am linken Flügel gesetzt sein, nachdem er in der vergangenen Championship-Saison überzeugen konnte. Der Rechtsfuß ist eigentlich ein Rechtsaußen, ist aber ein guter inverser Dribbler und zudem sehr torgefährlich. Weniger Torgefahr strahlt Altmeister Jakub „Kuba“ Blaszczykowski auf rechts aus, dafür ist der 32-Jährige enorm wichtig für die defensive Stabilität. Auch die Tatsache, dass er sehr lange mit seinem Hintermann Piszczek zusammenspielte, macht ihn zu einem logischen Starter. Kuba ist ein sehr dynamischer Flügelspieler, der sich niemals schont und im Nationalteam für gewöhnlich besser spielt als im Klub. Gegen den Senegal könnte er sein 100.Länderspiel bestreiten. Flügelalternativen gibt es zur Genüge, aber die meisten sind in ihrer Grundordnung so offensiv, dass sie eher als Einwechsler oder gegen klar schwächere Gegner (die es in Gruppe H nicht wirklich gibt) taugen. Sampdorias Dawid Kownacki kann rechts spielen, Rafal Kurzawa von Gornik Zabrze links, der 33-jährige Routinier Slawomir Peszko von Lechia Gdansk beidseitig. Alternativ kann sogar Arek Milik vom SSC Napoli auf links eingesetzt werden, er ist allerdings eher das Backup für Lewandowski. Die Kaderdichte passt hier also, die Qualität der einzelnen Akteure ebenfalls.

Der Weltstar als Zielspieler

Bei den Polen dreht sich alles um Robert Lewandowski. Er ist nicht erst seit kurzem einer der besten Stürmer der Neuzeit und natürlich absoluter Zielspieler im polnischen Team. Lewandowski, der heuer sein 10-jähriges Team-Jubiläum feiern wird, erzielte in 95 Länderspielen 55 Tore. Auf Klubebene gelangen ihm in der abgelaufenen Saison 41 Treffer. Arkadiusz Milik ist, wie bereits erwähnt, Lewandowskis Ersatzmann. Allerdings sucht der 24-Jährige noch nach seinem Rhythmus, nachdem er sich erst im vergangenen Frühjahr von seinem zweiten Kreuzbandriss erholte. Allerdings hat Nawalka mit Lukasz Teodorczyk sogar noch einen treffsicheren Goalgetter vom RSC Anderlecht in der Hinterhand.

Routinierter Teamchef

Seit bald fünf Jahren ist Adam Nawalka der starke Mann auf der polnischen Trainerbank. Sein Punkteschnitt kann sich mit 1,97 mehr als sehen lassen und der 60-Jährige wirkt wie ein typischer Teamtrainer, der nach seinem Engagement beim polnischen Verband wohl Probleme hätte, wieder in einen „Klubrhythmus“ zu kommen.

Die abseits.at-Einschätzung

Die Polen sind eines von drei Teams, das in der sehr engen Gruppe H den Gruppensieg einfahren könnte. Es wird vieles davon abhängen, ob Kamil Glik fit wird. Dies hat eine direkte Auswirkung auf die Mittelfeldzentrale und somit auch auf die vorderste Instanz der Zentralachse, Robert Lewandowski. Wenn Glik nicht fit wird, muss damit gerechnet werden, dass mehr über die Seiten aufgebaut wird, worauf sich die Gegner sicher besser einstellen können. So oder so ist praktisch jede Partie ein Endspiel für die Polen. Wenn man in die erste Partie gegen den Senegal gut hineinkommt und prompt einen Dreier einfährt, sollte einem Aufstieg nichts im Wege stehen. Alles, was über das Achtelfinale hinausginge, wäre aber eine riesige Überraschung.

Daniel Mandl Chefredakteur

Gründer von abseits.at und austriansoccerboard.at | Geboren 1984 in Wien | Liebt Fußball seit dem Kindesalter, lernte schon als "Gschropp" sämtliche Kicker und ihre Statistiken auswendig | Steht auf ausgefallene Reisen und lernt in seiner Freizeit neue Sprachen

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