Jeden Sonntag wollen wir in dieser neuen Serie Spieler beleuchten, die ungewöhnliche Wege eingeschlagen haben. Wir möchten Geschichten von Sportlern erzählen, deren Karriere entweder... Men to (re)watch (11) –  Carlos Roa (KW 11)

Tormann ParadeJeden Sonntag wollen wir in dieser neuen Serie Spieler beleuchten, die ungewöhnliche Wege eingeschlagen haben. Wir möchten Geschichten von Sportlern erzählen, deren Karriere entweder im Konjunktiv stecken blieb, die sich zu einem gegebenen Zeitpunkt radikal verändert haben oder sonst außergewöhnlich waren und sind: Sei es, dass sie sich nach dem Fußball für ein völlig anderes Leben entschieden haben, schon während ihre Profizeit nicht dem gängigen Kickerklischee entsprachen oder aus unterschiedlichen Gründen ihr Potenzial nicht ausschöpften. Auf jeden Fall wollen wir über (Ex)-Fußballer reden, die es sich lohnt auf dem Radar zu haben oder diese (wieder) in den Fokus zu rücken. Wir analysieren die Umstände, stellen Fragen und regen zum Nachdenken an. Im elften Teil lernen wir den ehemaligen argentinischen Torhüter Carlos Roa besser kennen…

Es ist einer der berühmtesten Ausschlüsse der Fußballwelt: Nach dem Hochschnellen seines rechten Beines gegen Diego Simeone wurde David Beckham im WM-Achtelfinale 1998 frühzeitig duschen geschickt. England flog daraufhin im entscheidenden Elfmeterschießen aus dem Turnier. In der Folge wurde „Becks“ von den eigenen Anhängern zur Zielscheibe und zum Sündenbock verklärt, ehe das angeknackste Verhältnis über drei Jahre später durch ein Freistoßtor des Superstars gegen Griechenland wieder hergestellt wurde. Wenn man an diesen 30. Juni denkt, wird oft vergessen, dass die „Nacht von St. Etienne“ aber – auf argentinischer Seite – auch einen Helden hatte: Carlos Ángel Roa, der 28-jährige Torhüter hielt im entscheidenden Penalty-Wettkampf zwei englische Elfer und avancierte so zum Man of the Match. Damals war der Torwart am Höhepunkt seiner Karriere, umso überraschender war es, dass er nach der Endrunde erneut für Schlagzeilen sorgte. Warum? Das soll hier erklärt werden:

Santa Fe. Salat. Sabbat.

Begonnen hat Carlos Roas außergewöhnliches Leben im nordöstlichen Argentinien, in Santa Fe. Dort wurde er am 15. August 1969 geboren und begann bei Gimnasia de Ciudadela – noch als Feldspieler – mit dem aktiven Fußballspielen. Seine Profikarriere startete er jedoch – als Torwart – weiter südlich bei Racing Club de Avellaneda nahe Buenos Aires: Im November 1988 wurde Racing Clubs damalige Nummer 1 mit Rot ausgeschlossen, woraufhin der 19-jährige zu seinem Debüt kam. Schon damals unterschied er sich von vielen seiner Kollegen: Roa wurde el lechuga (der Salat) gerufen, da er sich vegan ernährte – eine absolute Ausnahme nicht nur in der argentinischen Sportwelt, sondern auch in der durch fleischlastige Küche geprägten Gesellschaft Südamerikas. Außerdem meditierte der gläubige Christ regelmäßig.

Der Salat konnte sich bei Racing Club etablieren und gehörte bald zum Stammpersonal, bis er sich 1990 während einer Afrika-Tournee mit Malaria infizierte. Vier Jahre später ging Roa zu Club Atlético Lanús mit dem er zwei Jahre später die Copa Conmebol, Südamerikas zweitwichtigstes Fußballturnier, gewinnen sollte. Es war der erste Titel der Vereinsgeschichte und Carlos Roas Ticket nach Europa: Nach über hundert Spielen für den Verein wechselte er zu RCD Mallorca. Der Argentinier stand nun an der Schwelle zu einer großen Karriere: Er hatte es in die spanische Liga geschafft, wurde in die Albiceleste einberufen und scharrte in den Startlöchern für die WM-Endrunde in Frankreich.

Tatsächlich erlebte der mallorquinische Fußball erstmals einen Höhepunkt: Schon in seiner ersten Saison drang Roa mit seiner Mannschaft in das Finale der Copa del Rey vor, wo man nach einer 1:0-Führung bis zum Elfmeterschießen gegen Barcelona durchhielt. Roa, der Torwart mit Schwammerlfrisur und Kinnbart, hielt den ersten Penalty von Ausgleichsschütze Rivaldo, Celades miserabel geschossenen Elfer und Luis Figos Schuss. Drei Paraden! Nachdem er selbst seinen Strafstoß verwandelt hatte, war alles für ein David-besiegt-Goliath-Märchen angerichtet. Doch die Nerven der Balearen-Kicker spielten nicht mit und schließlich siegten die Blaugrana in diesem verrückten Penaltyschießen mit 5:4. Als kleiner Trost sollte Mallorca später allerdings die spanische Supercopa holen.

1999 ging Mallorcas Erfolgslauf weiter: RCD schloss die Saison als Dritter und somit mit der besten Platzierung in seiner Geschichte ab, außerdem wurde man Vizemeister im Europapokal der Pokalsieger. Der argentinische Schlussmann wurde mit der Trofeo Zamora als Torhüter mit den wenigsten Toren der Primera División ausgezeichnet. Bei der Endrunde in Frankreich hielt Roa seinen Kasten während der gesamten Vorrunde sauber, bis er im angesprochenen Achtelfinalspiel gegen England seinem Ruf als Elfmeterkiller alle Ehre machte und die Schüsse von Ince und Batty parierte. Die Albiceleste musste sich erst den Niederlanden im Viertelfinale mit 1:2 geschlagen geben. Tormann des Turniers wurde übrigens Fabien Barthez.

Herausragende Leistungen bei einer Endrunde können der Booster für eine Fußballkarriere sein; das Zünglein an der Waage, um von einem soliden Verein zu einem Top-Klub zu wechseln. So war es auch bei Carlos Roa; besser gesagt es hätte so sein sollen: Der Tormann sollte eigentlich mit Sack und Pack nach England übersiedeln, denn Manchester United streckte seine Fühler nach dem Südamerikaner aus und Roa winkte ein Millionen-Vertrag. Die ganze Sportwelt war jedoch perplex, als der Torwart diesen nicht nur ausschlug, sondern gleichzeitig seinen Rücktritt vom Profisport erklärte: Als Mitglied der Siebenten-Tags-Adventisten könne er Fußball nicht mehr mit seinem Glauben vereinbaren, insbesondere weil er sich nicht mehr imstande sehe an einem Samstag (Sabbat) zu spielen, erklärte der 1,91 Meter große Schlussmann.

„Bereite mich auf das Ende der Welt vor.“

Die Siebenten-Tags-Adventisten sind eine protestantische Freikirche, deren Mitglieder einen gesunden, den biblischen Grundsätzen folgenden Lebensstil, der weder ausschweifend noch asketisch sein soll, zu führen angehalten sind. Die Gläubigen orientieren sich fast ausschließlich an der Bibel. Ihr Name rührt von der dort befindlichen Nummerierung der Wochentage, nach denen der Samstag der siebente Wochentag ist, her, an dem die Arbeit ruhen soll. Siebenten-Tags-Adventisten glauben an die baldige Wiederkehr Jesus Christus.

So auch der nunmehr 30-jährige Carlos Roa. Die baldige Jahrtausendwende bedeutete für ihn das nahe Ende irdischen Lebens und die Ankunft eines Erlösers: „Er wird alles, was wir brauchen für uns bereitstellen.“ Der ehemalige Fußballprofi trennte sich von seinen Besitztümern und zog mit seiner Familie in die Einsamkeit der Berge Cordobas. Einer Zeitung, die ihn nach monatelanger Recherche aufspürte, erzählte der 16‑fache Teamspieler, er hätte sowieso nie Fußballer sein wollen, sei nie glücklich dabei gewesen und würde sein ehemaliges Leben deshalb auch nicht vermissen.

Doch – nachdem die Welt am 1. Jänner 2000 – nicht untergegangen war, schien es Roa doch wieder in den Fingern zu jucken: Im April diesen Jahres kündigte er seinen Rücktritt vom Rücktritt an und tauchte wieder auf dem Trainingsgelände seiner Mannschaft auf. Der Argentinier besaß nach wie vor ein gültiges Arbeitspapier und RCD bestand darauf, dass er seinen Vertrag erfüllte. Zwar beharrte der Tormann gegenüber dem Verein anfangs noch immer darauf, samstags nicht aufzulaufen, das viel größere Problem für die Klubführung war jedoch die fehlende Fitness des ehemaligen Weltklassesportlers. Nach Monaten ohne Profisport musste sich Roa gehörig quälen, um halbwegs dem körperlichen Zustand eines Fußballers zu entsprechen. Letztendlich schaffte er es. Seine Sorge samstags spielen zu müssen, war jedoch fast unbegründet: Der Ex-Teamspieler mauserte sich nicht wieder zur Nummer Eins, sondern blieb ein Bankdrücker, der es nicht schaffte, seinen Landsmann Leo Franco aus der mallorquinischen Stammelf zu verdrängen.

Überraschenderweise ergatterte er jedoch 2001 ein Probetraining beim Arsenal FC. Trainer Wenger wollte ihn sofort verpflichten, doch weil Roa keinen europäischen Pass besaß, scheiterte dieser Traumtransfer. Stattdessen versuchte der Südamerikaner einen Neu-Anfang in der zweiten spanischen Liga bei Albacete Balompié, Heimatklub von Andres Iniesta und Fernando Morientes: Sein Comeback schien zu glücken und der Verein stieg auf, doch Anfang 2004 wurde beim Ex-Internationalen Hodenkrebs entdeckt. Carlos Roa beendete schließlich seine aktive Sportkarriere ein zweites Mal, um sich einer Operation zu unterziehen. Es folgte ein Jahr mit Chemotherapie und Bestrahlung – ein annus horribilis. Doch Roa kämpfte sich wieder zurück: Er, der behauptet hatte, den Fußball nicht wirklich zu lieben, tat alles, um seine Schuhe noch nicht an den Nagel hängen zu müssen. Der Salat trainierte bei spanischen Drittligisten, um sich für das Comeback 2.0 in Form zu bringen. Für eine Fortsetzung seiner Laufbahn als Profi musste er jedoch in seine Heimat zurückkehren: Bei Olimpo de Bahía Blanca schaffte er es – ein letztes Mal in seiner Laufbahn – Stammtorwart zu werden, doch der Verein musste absteigen und Roas Vertrag wurde nicht verlängert. Er war fast 37 Jahre alt und schlug ein letztes Angebot aus seiner Heimatstadt aus. Der Argentinier entschloss sich Torwarttrainer zu werden und arbeitet bis heute – beginnend bei Club Atlético Brown – in Argentinien und Mexiko.

Vor zwei Jahren äußerte er sich noch einmal zum spektakulären Fast-Transfer 1998: „Heute denke ich, dass es auf einer spirituellen Ebene eine sehr gute Entscheidung war, aber sportlich gesehen war es das nicht. Ich habe den Fußball am Höhepunkt meiner Karriere verlassen. Ich hätte große Fortschritte machen können mit einem großartigen Vertrag und der Möglichkeit in England zu spielen.“ Doch es sollte anders kommen und Edwin van der Saar wurde Peter Schmeichels Nachfolger bei den Red Devils. Carlos Roa dagegen bleibt der Fußballwelt als ein Sportler, der sein volles Potenzial nicht ausgeschöpft hat, in Erinnerung.

Marie Samstag, abseits.at

Marie Samstag