Das zweite Spiel des UEFA Champions League Finalturniers in Portugal stand auf dem Programm und brachte eine interessante Begegnung zwischen RB Leipzig und... Analyse: Leipzig schockt Atletico Madrid spät

 

Das zweite Spiel des UEFA Champions League Finalturniers in Portugal stand auf dem Programm und brachte eine interessante Begegnung zwischen RB Leipzig und Atletico Madrid mit sich. Die Spanier galten aufgrund ihrer jahrelangen internationalen Erfahrung auf dieser höchsten Ebene als Favorit, steht man doch quasi im Zweijahres-Rhythmus in einem Europacup-Finale und ist dadurch entsprechend hochdekoriert. Auf der anderen Seite ist für den Retortenclub RB Leipzig der Einzug in das Viertelfinale der Champions League der größte Erfolg der noch jungen Vereinsgeschichte, wobei man natürlich die Chance ergreifen wollte, für noch mehr Furore zu sorgen.

Defensivbollwerk trifft auf Pressingmaschine

Führt man sich Spiele von Atletico Madrid unter Langzeit-Trainer Diego Simeone zu Gemüte, weiß man in den meisten Fällen bereits im Vorfeld, was man vom Auftreten der Mannschaft zu erwarten hat. Die Spanier haben ihre defensive Organisation – dank der jahrelangen Aufbauarbeit von Simeone – perfektioniert und schaffen es wie kaum eine zweite Mannschaft, die eigene Spielhälfte zu verteidigen und dem Gegner den letzten Nerv zu ziehen. Man wird kaum einen 4-4-2-Block im europäischen Fußball finden, der besser synchronisiert ist, die Abläufe in Fleisch und Blut übergangen sind und der auf jede Frage die passende Antwort parat hat. Es ist nach wie vor bemerkenswert, wie es Atletico schafft, die Räume zu verknappen, Überzahl in Ballnähe zu schaffen und den Vorwärtsdrang des Gegners zu unterminieren. Die Folgen sind für die Gegner meist „U-förmige“ Passmaps, da man mehr oder weniger dazu gezwungen ist, viel rundum den Block herumzuspielen, um überhaupt eine Ballzirkulation zustande zu bringen. Das musste nicht unlängst das Offensivfeuerwerk des FC Liverpool am eigenen Leibe erfahren, die trotz ihrer damaligen blendenden Form gegen die Spanier den Kürzeren zogen.

Im Vorfeld der Partie stand daher die spannende Frage im Raum, ob Atletico bei der gewohnten Spielanlage bleiben wird, oder aufgrund der Favoritenrolle zu einer aktiveren Spielweise greift. Das ist natürlich auch abhängig vom Verhalten des Gegners und wie dieser zu agieren gedenkt. RB Leipzig unter Nagelsmann ist dabei für die aktive Spielanlage bekannt, welches ein dominantes Ballbesitzspiel mit einem aggressiven Pressing verbinden möchte. Das gibt natürlich schon einen möglichen Hinweis, wie dies in diesem Spiel aussehen könnte. Natürlich hätte Leipzig-Trainer Nagelsmann aufgrund der Wichtigkeit der Partie auch entscheiden können, einen vorsichtigeren Ansatz zu wählen und Atletico das Spiel zu überlassen. Allerdings machte Leipzig von Anfang an keine Anstalten, etwas an der eigenen Spielanlage zu verändern, sondern stattdessen zu versuchen, das eigene Spiel durchzubringen.

Leipzig überrascht mit Hybrid-System

Klarerweise gab es dabei einige gegnerspezifische Anpassungen, wie etwa, dass man nur situativ auf Angriffspressing setzte und oftmals den Spielaufbau der Spanier in erster Instanz zuließ. Leipzig formierte sich gegen den Ball zu einem klaren 4-2-3-1-System, wobei hier der Fokus auf den gegnerischen Sechser Saul Niguez direkt ins Auge stach. Durch diese Systematik konnte man mit der offensiven Mittelfeldreihe gute Anknüpfungspunkte für den üblichen Spielaufbau von Atletico finden, die ihr Spiel gerne auf zwei Arten eröffnen: Entweder über den spielstarken Saul Niguez, der sich die Bälle vor der Abwehr abholt, oder über die beiden Außenverteidiger, die über die seitlichen Zonen das Spiel nach vorne tragen sollen. Daher wurde Leipzigs Mittelfeldspieler Dani Olmo mit einer Mannorientierung auf Saul Niguez betraut und sollte den spanischen Nationalspieler nicht aus den Augen lassen, damit dieser nicht das Spiel an sich reißen konnte.

Sofern der Ball dann auf die Außenverteidiger gespielt wurde, rückte ein Flügelspieler sofort hinaus und stellte den Gegenspieler, um den Weg nach vorne zu versperren. Mit diesen simplen Ansätzen gelang es Leipzig bereits, den gegnerischen Spielaufbau zu kontrollieren und weitestgehend zu unterbinden, weshalb Atletico das Spielgerät nicht wirklich lange in den eigenen Reihen zirkulieren lassen konnte. Falls die Spanier aber doch mal in das Mittelfeld kamen, begann prompt die Pressingzone von Leipzig und die Bullen attackierten im Vollsprint die Gegenspieler. Dadurch hatte Leipzig Atletico in der Defensive gut im Griff und der Fokus verlagerte sich mehr auf das eigene Ballbesitzspiel, da die Spanier den Ball recht schnell Leipzig überließen.

Dort wartete Trainer Julian Nagelsmann mit einer hochinteressanten Variante auf, die man in der Form nicht oft zu sehen bekommt. Im Ballbesitz veränderte sich nämlich die Systematik von Leipzig von einem 4-2-3-1, hin zu einem 3-1-5-1 – mit einer klaren Dreierkette in der Abwehr. Das ist nicht etwas gänzlich Ungewöhnliches in Zeiten des abkippenden Sechsers, der von vielen Teams gerne eingesetzt wird, um Überzahl in der Aufbaulinie gegen zwei Stürmer zu generieren. Doch Leipzig praktizierte dies erstens konstant und zweitens mit einer spannenden Rochade, die den österreichischen Nationalspieler Konrad Laimer betraf. Gegen den Ball gab der Österreicher den zweiten Sechser neben Kevin Kampl ab und kümmerte sich um das zentrale Mittelfeld. Doch sobald Leipzig in Ballbesitz kam, orientierte sich Laimer prompt auf die rechte Seite und übernahm die Rolle des Flügelverteidigers. Gleichzeitig rückte der nominelle Rechtsverteidiger Klostermann zurück in die Innenverteidigung und bildete mit Upamecano und Halstenberg eine Dreierkette.

Was waren die Gründe für Nagelsmann, zu dieser Variante zu greifen? Da der Trainer der Leipziger wohl mit mehr Ballbesitz für seine Mannschaft rechnete, versuchte er eine passende Konterabsicherung zu implementieren und vorrauschschauend zu denken. Gegen die zwei Stürmer von Atletico, wollte Nagelsmann daher drei Defensivspieler konstant in der Restverteidigung haben, um eine Überzahl zu gewährleisten, weshalb man in diesen Situationen auf den zweiten Sechser verzichten konnte. Der andere Aspekt war, dass Laimer natürlich spielerisch viel bewegen und über die Seite Druck entfachen kann. Da das Zentrum von Atletico meist gut kontrolliert wird, muss man klarerweise über die Flügel für die notwendige Durchschlagskraft sorgen. Daher versuchte man über die Achse mit Sabitzer-Laimer-Olmo ein spielstarkes Dreieck aufzubauen und mögliche Durchbrüche zu kreieren.

In der Praxis zeigte sich dann, wie stabil Atletico die Angriffe verteidigt. Leipzig tat sich schwer, aus dem Spiel heraus richtig gefährlich zu werden bzw. überhaupt in den Strafraum einzudringen. Sofern Atletico auf ein tieferes Mittelfeldpressing setzte, hatte Leipzig in den ungefährlichen Zonen eine klare Mehrheit an Ballbesitz, allerdings war man beim Übergang ins letzte Drittel zu fehlerhaft und konnte kaum für Gefahr sorgen. Man schlug höchstens einige Flanken in den Strafraum, die gegen die kopfballstarke Atletico-Abwehr allerdings kein wirklich taugliches Mittel waren. Auf der anderen Seite funktionierte aber die Konterabsicherung und das Gegenpressing von Leipzig gut, weshalb auch Atletico sich schwertat, Akzente nach vorne zu setzen. Mit Fortdauer versuchte man zwar Saul als Raumöffner für den zweiten Sechser Herrera einzusetzen, das kurbelte allerdings den Spielaufbau auch nicht an. Daher entwickelte sich auch zunächst ein mühsames, wenn auch intensives Spiel, ohne große Highlights im ersten Durchgang.

Leipziger Abgeklärtheit trifft In-Game-Coaching von Simeone

Nach dem Wiederanpfiff zum zweiten Durchgang, dauerte es nicht lange, ehe das Spiel richtig an Fahrt aufnahm. Maßgeblich daran beteiligt war auch die rasche Führung der Leipziger, die sich nach einem wunderschönen Spielzug in Front brachten. Verteidiger Halstenberg dribbelte sich bis in den Strafraum und drückte den gesamten Block des Gegners damit nach hinten, wodurch Platz für Sabitzer auf dem Flügel frei wurde. Dessen maßgenaue Hereingabe konnte Dani Olmo in weiterer Folge zum 1:0-Führungstreffer verwerten. Das veränderte nachhaltig die Charakteristik des Spiels, denn von nun an konnte Atletico natürlich nicht mehr abwartend agieren und auf Konterchancen lauern, sondern musste selber wesentlich aktiver zu Werke gehen und die Initiative übernehmen. Es dauerte auch nicht lange, ehe Simeone in Form von Wechseln reagierte und Maßnahmen setzte, um die Offensive in Gang zu bringen.

Mit Joao Felix kam eine neue Spitze in die Mannschaft, der mit einer ganz speziellen Aufgabe auf das Feld geschickt wurde. Joao Felix sollte nämlich die Vorgehensweise mit der Achse Laimer/Halstenberg gezielt anbohren und mögliche Schwachstellen ausnutzen, weshalb er sich aus der Spitze immer wieder auf den linken Flügel absetzte. Dort sollte Joao Felix gemeinsam mit Carrasco für Überzahl und ein technisch starkes Duett sorgen. Doch Leipzig ließ sich von diesen Umstellungen zunächst gar nicht beeindrucken, im Gegenteil. Die Bullen wurden vom Führungstreffer beflügelt und wirkten im Ballbesitz noch ein Stück selbstsicherer. Das war aber nicht der einzige Grund, denn Altetico musste klarerweise etwas offensiver und forscher agieren und konnte nicht mehr so tief und kompakt verteidigen. Dadurch wurden die Räume größer, weshalb das starke Ballbesitzspiel der Leipziger besser zur Geltung kam. Man wusste mit einer ruhigen Ballzirkulation zu gefallen und vor allem die Verteidigung konnte in der Spieleröffnung mit scharfen Vertikalpässen plötzlich mehrmals die Linien des Gegners überspielen.

Man verbrachte allerdings wiederum mehr Zeit in der Defensive, da Atletico zu mehr Ballbesitz kam, was natürlich eine laufende Gefahr war. Die meisten Situationen konnte man zwar gut verteidigen, doch ein Geniestreich hätte aufgrund der knappen Führung ja bereits gereicht, um die Spanier ins Spiel zurückzubringen. Und dieser kam dann auch tatsächlich in Form einer schönen Aktion von Joao Felix, der nach einem Doppelpass durchbrechen konnte und von Klostermann regelwidrig im Strafraum zu Fall gebracht wurde. Den fälligen Strafstoß verwandelte der gefoulte selbst zum 1:1.

Leipzig-Trainer Nagelsmann wechselte dann auch und brachte mit Schick eine zweite Spitze, weshalb man vom Hybrid-System abrückte zu einer klaren 4-4-2-Formation überging. Als es so schien, als würde das Spiel auf eine Verlängerung hinauslaufen, schlug Leipzig plötzlich aus dem Nichts zu und ging wieder in Führung. Ein erneut schöner Angriff wurde vom eingewechselten Adams verwertet, dessen Schuss unhaltbar für Atletico-Torhüter Oblak ins Tor abgefälscht wurde. Die Spanier warfen im Anschluss zwar nochmal alles nach vorne und drängten auf den Ausgleich, jedoch konnte Leipzig angeführt vom starken Upamecano alles rechtzeitig verteidigen und so den knappen Sieg über die Ziellinie bringen.

Fazit

Dem deutschen Bundesligisten Leipzig gelang also die faustdicke Überraschung und man setze sich zwar glücklich, aber nicht ganz unverdient mit 2:1 durch. Die Bullen präsentierten sich von Trainer Nagelsmann gut eingestellt und über weite Strecken abgeklärt, weshalb man nur wenige Fehler im Spiel beging und die zwei Treffer schön herausspielte. Das angedachte 4-2-3-1/3-1-5-1-Hybrid-System funktionierte in der Konterabsicherung äußerst gut, weshalb man auch kaum Gelegenheiten des Gegners zuließ und das Spiel die meiste Zeit unter Kontrolle hatte. Nun hat man den größten Erfolg der Vereinsgeschichte egalisiert und es fehlt nur noch ein Schritt auf dem Weg ins Finale. Dabei wird das Duell des Lehrmeisters Thomas Tuchel gegen den Schüler Julian Nagelsmann zweifellos viel Brisanz mitbringen.

Auf der anderen Seite präsentierte sich Atletico Madrid in diesem Spiel letztlich enttäuschend. Die Defensive war zwar lange Zeit ein Bollwerk und man ließ auch in dieser Partie kaum klare Gelegenheiten zu, doch auf den Rückstand konnte man nicht wirklich passend reagieren und die Offensive brachte man schlicht nicht in Gang. Dank einer Einzelaktion kam man dann doch noch einmal heran und schnupperte am Halbfinale, ehe eine weitere Unachtsamkeit die Träume der Madrilenen beendete. Atletico muss sich jedenfalls Gedanken machen, wie man trotz der qualitativen Überlegenheit im Kader, Leipzig letztlich so wenig entgegenzusetzen hatte. Trainer Simeone wird gefragt sein, mittelfristig das Spiel weiterzuentwickeln und die richtigen Schlüsse aus der Niederlage zu ziehen, sofern man weiterhin im Konzert der Großen mitspielen möchte.

Dalibor Babic, abseits.at

Dalibor Babic