Jeden Sonntag wollen wir in dieser Serie Spieler beleuchten, die ungewöhnliche Wege eingeschlagen haben. Wir möchten Geschichten von Sportlern erzählen, deren Karriere entweder im... Men to (re)watch (34) –  Andrea Fortunato (KW 34)

Jeden Sonntag wollen wir in dieser Serie Spieler beleuchten, die ungewöhnliche Wege eingeschlagen haben. Wir möchten Geschichten von Sportlern erzählen, deren Karriere entweder im Konjunktiv stecken blieb, die sich zu einem gegebenen Zeitpunkt radikal verändert haben oder sonst außergewöhnlich waren und sind: Sei es, dass sie sich nach dem Fußball für ein völlig anderes Leben entschieden haben, schon während ihre Profizeit nicht dem gängigen Kickerklischee entsprachen oder aus unterschiedlichen Gründen ihr Potenzial nicht ausschöpften. Auf jeden Fall wollen wir über (Ex)-Fußballer reden, die es sich lohnt auf dem Radar zu haben oder diese (wieder) in den Fokus rücken. Wir analysieren die Umstände, stellen Fragen und regen zum Nachdenken an. Heute rekapitulieren wir das Leben eines viel zu jung verstorbenen Außenverteidigers…

Gianluca Vialli konnte seine Tränen nicht verbergen: Mit „Ehre sei dir, mein Bruder!“, schloss der glatzköpfige Stürmer mit stockender Stimme seine Rede in der Kathedrale von Salerno. Das ist jetzt 27 Jahre her. Ganz Italien, nicht nur die Tifosi, war damals über den Tod eines blutjungen Fußballers geschockt: Knapp vor seinem 24. Geburtstag wurde Juventus-Verteidiger Andrea Fortunato – nur elf Monate nachdem er die Diagnose Leukämie erhalten hatte ‑ zu Grabe getragen. Es war das tragische Ende eines Riesentalents, das Milan-Trainer Arrigo Sacchi als „Wiedergeburt des italienischen Fußballs“ bezeichnet hatte.

Ein kurzes Leben

Der Abend, an dem Andrea starb, der 25. April 1995, war ein lauer Frühlingsabend. „Ich konnte mir nicht vorstellen, wie wunderbar auch ein einfacher Spaziergang sein kann.“, hatte der Fußballer wenige Tage vor seinem Tod gesagt. Sein Ende kam überraschend, schließlich befand sich Andrea nach der Schockdiagnose Blutkrebs schon auf dem Weg der Besserung, als er sich eine schwere Lungenentzündung zuzog, die ihm letztendlich zum Verhängnis werden sollte. Der Defensivspieler mit den engelsgleichen Gesichtszügen und dem dichten dunklen Haar musste diese Welt viel zu früh verlassen.

Fortunato stammte aus Salerno, wo er am 26. Juli 1971 geboren wurde. Andreas Vater arbeitete als Kardiologe, seine Mutter war Bibliothekarin. Heute ist nahe ihrer ehemaligen Arbeitsstelle eine Straße nach ihrem jüngeren Sohn benannt. Andrea eiferte zunächst seinem Bruder nach und betätigte sich im Schwimmen sowie im Wasserball. Obwohl er in Süditalien aufwuchs, war er bereits als Knirps Juventus-Fan. Nachdem er für einen lokalen Klub gespielt hatte, wurde er als Dreizehnjähriger ins Fußballinternat von Como aufgenommen und vom Mittelstürmer zum Verteidiger umgeschult.

1989 feierte er sein Debüt als linker Außenverteidiger in der Serie B und machte mit seiner Geschwindigkeit und seinen gefährlichen Vorstößen rasch auf sich aufmerksam. Nachdem das abgestiegene Como den Wiederaufstieg in die Serie B nicht schaffte, wechselte Fortunato nach Genua. Dort war auf seiner Position aber der erfahrene Brasilianer Branco gesetzt und Andrea musste auf der Bank Platz nehmen. Er war frustriert und es sollte noch schlimmer kommen: Nach einem Streit mit dem Co-Trainer galt er als „arroganter Hitzkopf“ und wurde prompt zu Pisa verliehen. In der Toskana fand „der Glückliche“ aber wieder in die Spur und mauserte sich nach seiner Rückkehr nach Genua gemeinsam mit Panucci zum neuen, italienischen Außenverteidiger-Duo. Schnell, dynamisch und angriffslustig – von wegen catenaccio. Juve-Trainer Trapattoni ließ ihn für 12 Milliarden Lire verpflichten. Fortunato war am Ziel seiner Träume: „Was soll ich sagen? Ich war als Kind verrückt nach den Schwarz-Weißen und – obwohl ich Fußballprofi wurde – ist eine gewisse Liebe zu Juventus in meinem Herzen geblieben.“

Wie sich im Nachhinein herausstellen sollte, war die Saison 1992/93 der Höhepunkt seiner Karriere: Andrea fühlte sich wie ein Fisch im Wasser. Er fütterte Baggio und Vialli mit feinen Flanken von der linken Seite und war sich für keinen Temposprint zu schade. Mit seiner zurückhaltenden, charmanten Art eroberte er rasch die Herzen der Turiner Fans.

Am 22. September 1993 feierte er sein Debüt für die italienische Nationalmannschaft beim 3:0-Sieg gegen Estland. „Ich verspreche, immer das Maximum in das blaue Trikot zu stecken. Ich werde immer alles geben und am Ende mit erhobenem Haupt vom Platz gehen, weil ich mich nicht geschont habe.“, sagte er nach seinem Premierenmatch. Der junge Mann schien Maldinis Platz perfekt auszufüllen und galt bereits nach seinem erster Nationalmannschaftsspiel als Fixstarter für die WM 1994.

„Du bist mein Schutzengel.“

In der zweiten Saisonhälfte 1993/94 verlor Fortunato aber plötzlich an Form. Er war aus unerklärlichen Gründen müde und konnte teilweise nicht spielen. Die Juve-Fans warfen ihrem einstigen Liebling Faulheit vor; insbesondere nach dem Cupausscheiden gegen Cagliari brannte der Hut. Angeblich verpasste ihm ein Tifoso nach einem Training sogar eine Ohrfeige.

Als Fortunato am 20. Mai 1994 in der Halbzeit ausgewechselt werden musste, unterzog man ihn an der Universitätsklinik in Turin mehreren Bluttests. Die Diagnose traf alle wie ein Schlag: Andrea litt an einer seltenen Form von Leukämie. Während der einst so agile Fußballer todkrank im Spital lag, flogen die Azzurri zur Endrunde in die USA. Andrea Fortunato kam ins Krankenhaus von Perugia, wo eine erste Knochenmarkstransplantation seiner Schwester Paola wirkungslos blieb. Nachdem eine Gewebespende seines Vaters jedoch sofort anschlug, waren die Ärzte optimistisch: Andrea sei jung und kräftig und habe den Willen, es zu schaffen, hieß es.

Tatsächlich ging es Fortunato rasch besser. Er telefonierte mit seinen Teamkameraden, die ihm versicherten, seinen Platz freizuhalten. Seine Familie wohnte während seines Spitalaufenthaltes im Haus von Fabrizio Ravanelli, einem Mitspieler und Freund von Andrea, der aus Perugia stammte. Im Herbst begann der Außenverteidiger bereits mit leichtem Training, obwohl er immer noch rekonvaleszent war.

Damals erklärte Fortunato in einem Interview, wie dankbar er seinen Teamkameraden und insbesondere Ravanelli sei. Er beschrieb das Gefühl von einem Tag auf den anderen schwer krank zu sein: „In dieser Situation ändert sich alles. Du baust dir ein neues Wertesystem auf und gibst Dingen Bedeutung, die auch wirklich wertvoll sind. Freundschaft ist das Wichtigste.“ Tragischerweise, sollte dieses Interview das letzte öffentliche Gespräch des Fußballprofis sein.

Fortunatos Tod kam – wie die Krebsdiagnose – überraschend und schnell: Andrea zog sich eine Grippe zu, die sein von Chemotherapien geschwächter Körper nicht besiegen konnte. Mit nur 23 Jahren schloss das italienische Fußballtalent für immer seine Augen.

Posthum wurde Fortunato italienischer Meister und Coppa Italia-Sieger. Gianluca Vialli, der Kapitän der „Alten Dame“, widmete seinem Freund die Titel. 25 Jahre nach dessen Tod meinte er: „Heute bist du mein Schutzengel. Ich vermisse dich so sehr. Ciao, Andrea!“

Marie Samstag, abseits.at

Marie Samstag