Ich hab’s geahnt: Schon als Martin Hinteregger vor wenigen Wochen erklärte, er würde seine Karriere jedenfalls bei der Eintracht beenden, signalisierte mein Bauchgefühl: Da... Kommentar: Warum ich Hintereggers Rücktritt nicht verstehen kann

Ich hab’s geahnt: Schon als Martin Hinteregger vor wenigen Wochen erklärte, er würde seine Karriere jedenfalls bei der Eintracht beenden, signalisierte mein Bauchgefühl: Da ist was im Busch. Im Normalfall hat man als 29-jähriger Innenverteidiger ja noch 2,3,4 Verträge vor sich bevor man dem Leistungssport endgültig Adieu sagt; und da es im Fußball sehr schnell gehen kann (zwei Euro in das Phrasenschwein!) wäre auch eine lebende Vereinslegende (wie sie „Hinti“ in Frankfurt war) eventuell gezwungen von heute auf morgen ihre Zelte nochmals woanders aufzuschlagen. Vor zwei Tagen platzte dann die Bombe und Hinteregger erklärte seine Profikarriere ab jetzt für beendet. Der gebürtige Kärntner führte begründend aus, er habe bereits im Herbst mit dem Gedanken gespielt, seine Fußballschuhe an den Nagel zu hängen: „Ich habe mich sportlich in einer schwierigen Phase befunden: Meine Leistungen waren schwankend. Die Siege haben sich nicht mehr so gut angefühlt, dafür tat jede Niederlage doppelt so weh.“

Ganz ehrlich, ich kann das nicht verstehen. Aber nicht so, wie Sie, verehrte/r Leser/in, jetzt vielleicht denken. Nicht, weil ich der Meinung bin, diese kickenden Millionäre müssen ein bisschen Kritik und Druck aushalten und dürfen nicht wegen Leistungstiefs oder medialem Gegenwind gleich die Flinte ins Korn werfen. Nicht so wie Rudi Völler, der anlässlich des Rücktritts vom damaligen HSV-Spieler Marcell Jansen (im selben Alter wie „Hinti“!) meinte, wer sowas mache, habe den Fußball nie geliebt. Nicht so wie Peter Pacult, der live im TV bezüglich Wohlfühlens im Leistungssport sagte, die Spieler sollten sich nicht so anstellen, sie würden sich ja auch gut fühlen, wenn „sie am 1. aufs Konto gehen“. Nein, ich kann es nicht verstehen, weil ich keine Profi-Fußballerin bin. Und ich kann es nicht verstehen, weil ich nicht Martin Hinteregger bin.

Die „echten Typen“ sterben aus

Hinteregger hat Erstaunliches gewagt: Er hat über seine Gefühle gesprochen. Das ist im Profifußball immer noch selten. Bereits in seinem 2021 erschienenen Buch erzählte er von psychischen Problemen, die ihn zwei Jahre zuvor heimgesucht hatten und sprach über jene professionelle Hilfe, die er in Anspruch nahm um diese zu überwinden. In „Innensicht“ kommen auch viele durchzechte Nächte, bleierne Köpfe und Dummheiten unter Einfluss von zu viel Promille zur Sprache. Hinteregger eckte während seiner Zeit als Profifußballer an; sein Privatleben wurde öffentlich breitgetreten: Kernige Aussagen, Alkoholexzesse (wie erwähnt) und zuletzt die Aufregung um einen rechtsextremen Organisator des von ihm initiierten „Hinti-Cups“.

Als einst ein „bierschäumender Fehltritt“ des Defensivspielers in der gesamten Medienwelt ‑ auch in einer fortschrittlichen Zeitung wie dem Falter ‑ folklorisiert und jede Kritik daran als spießig abgetan wurde, war der mittlerweile verstorbene Martin Blumenau der Einzige, der laut fragte, ob es eventuell einen Zusammenhang zwischen diesen periodischen Vorkommnissen und Hintereggers häufigen Verletzungspausen sowie seiner kategorischen Ablehnung von Mental-Betreuung gebe.

Niemand versuchte sich in den Menschen Martin H. hineinzuversetzen; die einen belegten ihn mit dem (nichtssagenden) Ausdruck „positiv verrückt“, für die anderen legte er unprofessionelles Benehmen an den Tag. Hat sich jemand um den Menschen und nicht um den Sportler gekümmert? Hat jemand gefragt, ob Hinteregger etwas zu kompensieren versucht, wenn er als FC Augsburg-Spieler beim Après-Ski in Obergurgl feiert, anstatt ein ruhigeres Regenerationsprogramm zu fahren?

Erfolgsdruck lastet auf vielen Menschen unserer Breitengrade. Mittlerweile sind Besuche beim Psychotherapeuten, was sie schon lange sein sollten: normal. Jeder kennt jemanden, der sich in einem Tief Hilfe gesucht hat oder Seelenhygiene – wie einen Zahnarzttermin ‑ in Anspruch nimmt, um sich durchchecken zu lassen. Wenn man sich die Entwicklung weltweit ansieht, dann hat – von Prag bis Pretoria – die Zahl jener Menschen, die Antidepressiva einnehmen, Konjunktur. Besonders Letzteres ist mehr als bedenklich. Irgendwann gibt’s in der immer schneller, immer mehr wollenden Gesellschaft einen Kabelbrand. Der Wahnsinn des Kapitalismus; wir verkaufen unsere Seelen wie Fernsehbildschirme.

Vor diesem Hintergrund ist der Rücktritt des Ex-Salzburgers viel mehr als nur ein frühzeitiger Abschied vom Profisport. Auch Marcel Hirscher und Nico Rosberg erklärten das Ende ihrer sportlichen Karrieren damit, dass sie ihre Ziele erreicht hätten und es im Leben eben mehr als ein gewonnenes Rennen gäbe: Gesundheit und Familie, gemeinsame Verantwortung für ein Kind, Achtung vor der eigenen Physis und Psyche seien wichtiger. Es sind die letzten Tage der Verbissenen; ein Abschied der Macho-Sportler. Mündige Menschen wollen ihre Körper nicht mehr wie Zitronen ausquetschen oder als Material verkauft, vertauscht und verliehen werden. Klar, Leistungssport ist per se nicht gesund und für Hirn und Herz stressig, trotzdem muss ein menschlicher Umgang wieder möglich sein. Wenn ein gut bezahlter Beruf zur Qual wird, ist die Reißleine – ohne Wenn und Aber – zu ziehen. Jene, die das nicht so sehen, werden hoffentlich immer weniger. Zeit wird’s. Vielleicht habe ich Martin Hinteregger doch ein bisschen verstanden. Ich hoffe jedenfalls, dass ich mit meiner Analyse nicht ganz falsch liege.

Marie Samstag, abseits.at

Marie Samstag