Die Tunesier stellten die Engländer mit ihrer teils spektakulären und unorthodoxen Spielweise gegen den Ball vor große Probleme, aufgrund der Chancen-Verteilung während der 90... Englands Probleme oder warum man sich an Tunesien ein Beispiel nehmen sollte

Die Tunesier stellten die Engländer mit ihrer teils spektakulären und unorthodoxen Spielweise gegen den Ball vor große Probleme, aufgrund der Chancen-Verteilung während der 90 Minuten ging der knappe Sieg für die Briten aber in Ordnung, auch wenn er durch ein Last-Minute Tor von Harry Kane glücklich zustande kam.

Die Tunesier konnten in der Auftaktpartie ihrer Rolle als taktisch interessante Überraschungsmannschaft gerecht werden. Spielerisch und technisch auf engem Raum den Engländern überlegen, gegen den Ball mutig, anpassungsfähig und facettenreich. In der zweiten Hälfte sollte Tunesien-Coach Maaloul das Defensivspiel seiner Mannschaft mit einer Systemumstellung noch einmal wesentlich verbessern, nachdem in den ersten 45 Minuten vor allem die Schnittstellen in der eigenen Abwehrkette nicht gut verteidigt werden konnten. Eine Analyse zu einem interessanten und wechselhaften Spiel.

Grundordnungen und Personal

Auf beiden Seiten kam es vor Spielbeginn zu personellen Überraschungen in der Anfangsformation. An der Grundordnung änderte derweilen England-Trainer Gareth Southgate natürlich nichts. Das 5-3-2 / 3-5-2 hat sich bei den Briten mittlerweile etabliert und wird deshalb auch bei dieser WM die bevorzugte Ordnung bleiben. Auf dem personellen Sektor überraschte Southgate schon ein wenig mehr. Auf der halbrechten Innenverteidigerposition der Dreierkette kam zum Beispiel nicht Phil Jones, sondern Kyle Walker von Manchester City zum Zug, den man eigentlich auf der Flügelverteidigerposition erwartet hatte. Stones und Maguire komplettierten vor Torhüter Pickford die zentrale Verteidigung, unterstützt im Spiel gegen den Ball wurden diese drei von den beiden Wing-Backs Trippier und Young, der den Vorzug vor Danny Rose erhalten hat.

Im Mittelfeld hielten sich die Überraschungen stärker in Grenzen, Henderson gab wie gewohnt den alleinigen Sechser vor der Dreierkette, auf den Achterpositionen in den jeweiligen Halbräumen spielten die beiden Youngster Alli und Lingard. Die Sturmlinie bestand natürlich aus Kapitän Kane und dem wendigen Sterling.

Die Tunesier starteten nominell in einer 4-1-4-1-Ordnung, wobei es ausgehend davon zu etlichen Umformungen und Verschiebungen kam, sowohl bei eigenem als auch bei gegnerischem Ballbesitz. Im Tor begann Hassen, der allerdings nach bereits 15 Minuten wegen einer Schulterverletzung durch Ben Mustapha ersetzt werden musste. Die Viererkette davor bestand aus den beiden Außenverteidigern Maaloul sowie Bronn und dem Innenverteidiger-Duo Meriah und Ben Youssef.  Skhiri gab den Sechser vor der Abwehr, unterstützt wurde er immer wieder von den sehr spielintelligenten und anpassungsfähigen Achtern Badri und Sassi. Die breiten Flügelpositionen besetzten Sliti und Ben Youssef, als einziger nomineller Stürmer spielte wie erwartet Kapitän Khazri.

Interessantes, aber schwach abgesichertes Defensivkonzept in Hälfte eins

Das Defensivspiel der Tunesier in dieser Begegnung war ein echter Hingucker. Es war alles dabei: verschiedene Grundordnungen, wechselhafte Pressinghöhen, Mannorientierungen, aufgefüllte Fünferketten usw. Es war in den 90 Minuten wirklich vieles dabei, dabei vergaßen die Tunesier vor allem im ersten Durchgang zu häufig auf individual- und gruppentaktische Basics, insbesondere im Kettenspiel und der Strafraumverteidigung.

In den Anfangsminuten konnte man gegen den Ball noch einige Sequenzen in einer 4-4-2-Ordnung beobachten, aber relativ schnell wurde klar, dass die Tunesier sich in einer 4-1-4-1-Grundstruktur auf dem Feld positionierten. Aber auch das war nur ein grober Rahmen, an dem sich die Tunesier orientieren konnten und von dem sie ausgehend ihre Defensivmechanismen starteten.

Auffallend war, dass die Tunesier recht konstant mit einer aufgefüllten Fünferkette agierten. Der rechte Mittelfeldspieler Ben Youssef orientierte sich sehr stark mannorientiert an Young und ließ sich deshalb häufig auf eine Höhe mit den vier Verteidigern fallen. Dadurch entstand bei englischem Ballbesitz und gleichzeitigem Aufrücken von Young in der Regel ein asymmetrisches 5-4-1, die beiden Achter ließen sich auf die Höhe des Sechsers fallen und der ballferne linke Flügelspieler ordnete sich ebenfalls in dieses Mittelfeldband ein.

Bis zum Führungstreffer der Engländer durch Kane positionierten sich die Tunesier in einem moderaten Mittelfeldpressing. Stürmer Khazri machte keine unnötigen Meter und ließ die Ballzirkulation zwischen den drei englischen Innenverteidigern zu, stattdessen orientierte er sich an der Position des Sechsers Henderson, den er zumeist mit einem aufrückenden Achter (bzw. vereinzelt auch mit dem vorrückenden Sechser Skhiri) unter Druck setzte.

Das Zurückfallen der Flügelspieler in die Abwehrreihe hatte auch noch einen anderen Effekt. Die tunesischen Außenverteidiger wurden nämlich frei und konnten sich dadurch an den englischen Achtern Lingard und Alli orientieren. Vor allem Rechtsverteidiger Bronn rückte einige Male sehr aggressiv in den Zwischenlinienraum auf Alli heraus und verfolgte diesen auch noch weiter ins Mittelfeld. Praktisch war das auch deshalb möglich, weil die englischen Achter oft sehr hoch positioniert stehen und sich auf einer Höhe mit den beiden Stürmern (um die kümmerten sich die Innenverteidiger) befinden. Dadurch waren Zugriff und Dynamik oft gegeben, trotzdem offenbarten die Tunesier in der praktischen Umsetzung einige Schwächen.

Das größte Problem war, dass die Schnittstellen hinter den aufgerückten Außenverteidigern nicht schnell genug geschlossen werden konnten. Die Absicherung in der Tiefe vom jeweils ballnahen Außen- und Innenverteidiger war zu oft suboptimal. Beide waren zu sehr mit ihren direkten Gegenspielern (Flügelspieler mit aufgerücktem Wing-Back, Innenverteidiger mit einem Stürmer) beschäftigt und hatten dadurch die rechtzeitige Schließung des Raumes nicht im Blick. Deshalb gelang es den Briten einige Male sehr simpel, durch diese Schnittstellen hinter die tunesische Abwehr zu kommen und sich hochkarätige Abschlussmöglichkeiten zu arbeiten. Die Tunesier können wirklich von Glück bzw. englischem Unvermögen sprechen, dass zu diesem Zeitpunkt die Partie nicht schon vorzeitig entschieden wurde. Coach Maaloul sollte in der Halbzeitpause aber die richtigen Anpassungen vornehmen.

Engländer bespielen Schnittstellen gut

Das Aufbauspiel der Engländer war aus taktischer Sicht unspektakulär und wie erwartet. Die Wing-Backs gaben dem Spiel die notwendige Breite und verbanden oft die drei Aufbauspieler mit den vorderen vier Akteuren, Henderson besetzte konstant den Sechserraum vor der Abwehr und war die erste vertikale Anspieloption im Aufbau. Die Achter sollten mit ihrer individuellen Qualität für Kreativität und offensive Durchschlagskraft sorgen und positionierten sich dafür sehr hoch in der Nähe der beiden Stürmer.

In einigen Situationen waren die Positionen der Achter aber gefühlt etwas zu hoch angelegt. Ähnlich wie bei der deutschen Mannschaft agierten dann bis zu sechs Spieler auf einer horizontalen Linie und das Übergangsspiel aus der eigenen Abwehrreihe heraus gestaltete sich schleppend und oft ideenlos. Nicht umsonst haben vor Turnierbeginn einige Experten befürchtet, dass das Ballbesitzspiel der Briten für den ganz großen Durchbruch zu statisch und zu langsam sein könnte. Also ähnlich wie bei der Europameisterschaft vor zwei Jahren. Lässt man das englische Spiel noch einmal Revue passieren, kann man diese Bedenken sehr gut nachvollziehen. Individuelle Qualität ist die eine Seite, die richtige Einbindung in das Mannschaftsspiel eine komplett andere.

Trotzdem gelang es der Mannschaft von Gareth Southgate in der ersten Halbzeit sehr gut, die offenen Schnittstellen anzuspielen und anzulaufen und dadurch für viel Durchschlagskraft zu sorgen. Aus den hohen Positionen konnten sämtliche Spieler gut getimte Sprints hinter die Abwehrlinie ansetzen und wurden dort auch dementsprechend bedient. Allerdings fehlten die Geradlinigkeit und vielleicht auch die Konzentration beim letzten Pass oder beim Abschluss komplett, wodurch Kane und Co. mit einem mageren 1:1 in die Pause gehen mussten.

In dieser Passmap sieht man die gestreckte Formation der Engländer und die hohen Positionen der beiden Achter, wodurch Räume in den Übergangszonen neben Henderson nicht besetzt sind.

Maalouls Anpassungen sorgen für erhöhte Stabilität

Tunesien-Coach Maaloul erkannte natürlich, dass seine Mannschaft große Schwierigkeiten in der defensiven Stabilität und Endverteidigung hatte und stellte in der Halbzeitpause dementsprechend um. Er schickte sein Team in einer 5-3-2-Grundordnung wieder auf den Rasen und stellte somit auch die Anpassungsfähigkeit einiger seiner Spieler auf die Probe. Sliti, in den ersten 45 Minuten noch linker Flügelspieler, beförderte er in die Sturmlinie neben Khazri. Ben Youssef ließ sich fortan nicht nur mehr situativ in die Abwehr fallen, sondern ordnete sich konsequent in einer Fünferkette ein. Die Positionen in der Fünferkette verschoben sich auch alle dementsprechend. Das Dreier-Mittelfeldband bestand aus Skhiri, Sassi und Badri. Einhergehend mit dieser Systemumstellung verschob sich auch die kollektive Pressinghöhe etwas nach hinten. Der Raum hinter der Fünferkette wurde kleiner, in Kombination mit der horizontal dichteren und besser gestaffelten Fünferkette gelang es den Engländern lange nicht mehr so gut, in den Rücken der Abwehr zu kommen. Klar, sie haben diesen Raum auch zu wenig attackiert und stattdessen viel mit entgegenkommenden Bewegungen operiert, die Tunesier verteidigten diese Räume aber schlichtweg auch kompakter und aufmerksamer.

Taktisch äußerst interessant und irgendwie auch etwas eigenartig war die Rolle von Ferjani Sassi im zweiten Durchgang. Wie die gesamte Mannschaft agierte er wesentlich defensiver und hatte die Spezialaufgabe, Dele Alli aus dem Spiel zu nehmen. Dafür agierte er stark mannorientiert und war aufgrund der Bewegungen von Alli plötzlich häufig zwischen halbrechtem Innenverteidiger und rechtem Flügelverteidiger zu finden. Spätestens da wurde klar, dass diese Tunesier wirklich keine gewöhnliche Mannschaft sind. Als logische Folge entstanden viele 6-2-2 / 6-3-1 Staffelungen, was die Kompaktheit um den eigenen Sechzehner herum noch einmal erhöhte.

Als Maaloul merkte, dass die Kräfte bei seiner Mannschaft langsam schwanden und die Briten im Mittelfeld klar die Überlegenheit gewannen, brachte er mit Mohammed Ben Amor einen defensiven Mittelfeldspieler und verstärkte so das Mittelfeld noch einmal zusätzlich. Wie der Fußball eben so ist, half dies alles nichts und das Mutterland des Fußballs gewann mit dem zweiten Tor nach einer Standardsituation die Partie schlussendlich doch noch. Vorausgegangen war ein großer individueller Fehler, womit wir wieder am Beginn dieser Analyse wären.

Fazit

Die Engländer erledigten ihre Aufgabe pflichtbewusst, nicht mehr aber auch nicht weniger. Ob mit dieser doch sehr statischen Spielweise der ganz große Wurf gelingen kann, ist äußerst fragwürdig. Sowohl bei eigenem als auch bei gegnerischem Ballbesitz gibt es einige Facetten, die man taktisch druckvoller und besser strukturiert umsetzen könnte. Aus strategischer und taktischer Sicht gehen sie mit dem Mainstream, mehr nicht.

Das kann man von den Tunesiern nicht behaupten. Vor allem spielerisch waren sie den Briten überlegen und konnten viele enge Drucksituationen im Mittelfeld spielerisch auflösen. Auch im Pressing (das gute Angriffspressing nach dem 0:1 haben wir gar nicht erwähnt, hat die Engländer aber vor große Herausforderungen gestellt) hatten sie gute Ideen, nach anfänglichen Stabilitätsproblemen konnten sie mit einer Systemumstellung und einer etwas tieferen Grundpositionierung aber an Stabilität gewinnen und die Engländer nicht mehr gefährlich vor das Tor kommen lassen. Man darf gespannt sein, wie sie sich gegen Belgien und Panama schlagen werden.

Sebastian Ungerank, abseits.at

Sebastian Ungerank

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