Jeden Sonntag wollen wir in dieser neuen Serie einen Blick in die Vergangenheit werfen: Wir spielen sozusagen einen Zuckerpass in den Rückraum und widmen... Wiederholung in Zeitlupe (14) –  Überfall auf einen Polizisten (KW 25)

Jeden Sonntag wollen wir in dieser neuen Serie einen Blick in die Vergangenheit werfen: Wir spielen sozusagen einen Zuckerpass in den Rückraum und widmen uns kurz und bündig legendären Toren, Spielen, Fußballpersönlichkeiten, Ereignissen auf oder neben dem Platz und vielem mehr. Wir wollen Momente, Begebenheiten, Biografien im Stile von Zeitlupenwiederholungen aus dem TV nochmals Revue passieren lassen. Heute erinnern wir an den tragischen Überfall auf Daniel Nivel am 21. Juni 1998…

Zwei Minuten in Lens – Die Schande der WM ‘98

Hooliganismus, die englische Krankheit, schwappte in den 1970er-Jahren durch Fans, die ihre Nationalmannschaft zu Auswärtsspielen begleiteten, aufs europäische Festland über. Schon klar, Ausschreitungen bei Massenereignissen gibt es seit der Antike, doch kultivierte Gewalt im Rahmen von Fußballspielen entwickelte sich in den 50er-, 60er-Jahren vor allem auf der Insel. Junge Männer durch Testosteron und Alkohol aufgeputscht, lieferten sich Schlachten mit gegnerischen Fans – dieses Phänomen benannte man nach dem irischen Familiennamen Hooligan bzw. O’Hooligan. Sparringpartner war auch die Polizei, die das Problem erst nach tragischen Gewaltexzessen in den Griff bekam: Die Katastrophe im Brüsseler Heysel-Stadion ’85 und die Massenpanik von Sheffield ’89 brachten zwar schrittweise Verbesserung, doch sie konnte einen besonders heimtückischen Überfall am 21. Juni 1998 nicht verhindern.

Die Rue Romuald Pruvost in Lens, Nord-Frankreich, sieht aus wie ein Gässchen in Edinburgh oder Liverpool: Rote Backsteinhäuser, schmaler Gehsteig, grauer Himmel. Das wirkt symbolisch für jenen Vorfall, der sich anlässlich der WM-Endrunde 1998 dort zugetragen hat. Doch es waren keine britischen Fußballfans, die sich hier von ihrer schlechtesten Seite zeigten, es waren deutsche Hooligans, die das Leben des damals 43-jährigen Daniel Nivel zerstörten. Nivel war als Gendarm bei der Fußball-WM 1998 im Einsatz, er ist verheiratet und Vater von zwei Söhnen. Die Täter sahen später im Gerichtssaal mit gescheiteltem Haar, Brille und Anzug wie Bankbeamte und nicht wie Menschen, die auf einen Wehrlosen eingetreten haben, aus. Der Richter sollte ihr Verhalten als „monströs“ bezeichnen: Sie prügelten mit einer Reklametafel auf den Kopf des Polizisten ein und schlugen ihn mit seinem eigenen Gewehraufsatz bis sein Schädel gebrochen war.

Der 21. Juni vor 23 Jahren war ein heißer Sommertag. Deutschland spielte in der Vorrunde gegen Jugoslawien. Die Gewaltbereiten unter den Deutschland-Fans waren enttäuscht, dass ihre Kontrahenten vielfach an der Grenze aufgehalten wurden, die französische Polizei hatte die Innenstadt abgeriegelt. Nach dem 2:2-Unentschieden machte sich Frust breit, der zu Krawallen führte: Die Einsatzkräfte versuchten die Randalierer zu zerstreuen und abzudrängen. Eine versprengte Gruppe deutscher Hools erblickte Daniel Nivel und zwei Kollegen in der Rue Romuald Pruvost. „Das sind nur drei! Die hauen wir platt!“, soll einer von ihnen geschrien haben. Sie benutzten ein Reklameschild als Barriere um die Gendarmen umzurennen. Nivel ging zu Boden, seinen zwei Kollegen gelang die Flucht. Während sich diese um Verstärkung bemühten, prügelte die Gruppe auf den wehrlosen Franzosen ein. „Es war so, als trete man gegen einen Fußball.“, sagte einer der Täter später vor Gericht. Der Gewaltexzess dauerte nur zwei Minuten. Für Daniel Nivel waren es jedoch zwei entscheidende Minuten: Er fiel ins Koma, die Ärzte kämpften wochenlang um sein Leben.

Ganz Deutschland schämte sich für den Vorfall, der weltweit Schlagzeilen machte. 20 Jahre später wurde Nivel, der seit den Geschehnissen dienstunfähig und schwerstbehindert ist, das Bundesverdienstkreuz verliehen. Der DFB sammelte nicht nur Geld für ihn, sondern gründete auch eine Stiftung, die seinen Namen trägt und organisiert einen Cup, der als zweitgrößtes europäisches Hobbyfußballturnier gilt. Nach dem Überfall kritisierten manche aber auch die französische Polizei:  So behaupten ihre deutschen Kollegen, die Verantwortlichen hätten Ratschläge und Hinweise bezüglich gewaltbereiter Fangruppierungen einfach in den Wind geschlagen. Die Einsatzkräfte seien nicht richtig vorbereitet gewesen.

Während Nivel in einer Reha-Klinik mühsam gehen und sprechen lernte, begann 1999 in Essen der Prozess gegen vier Hooligans. Nur zwei legten Teilgeständnisse ab und baten den Polizisten um Verzeihung. Der Haupttäter soll auf einem Foto, das jemand aus der Szene geschossen hat, erkennbar sein: André Z., ein Schalke-Fan in blauem T-Shirt und Jeans, wurde fotografiert, als er sich mit dem Reklameschild über Nivel beugte. Ein Fanbetreuer identifizierte ihn schließlich und musste anschließend mit seiner Familie in einem Zeugenschutzprogramm abtauchen. Z. wurde wegen versuchten Mordes zur höchsten Strafe der Angeklagten verurteilt: 10 Jahre Gefängnis. Die anderen Angeklagten wurden zu Freiheitsstrafen zwischen dreieinhalb und sechs Jahren verurteilt. Später gab es noch zwei Prozesse in Bochum und Saint-Omer.

Daniel Nivel verzieh den Schläger nicht. „Jamais – Niemals“, antwortete er auf die Frage eines TV‑Reporters. Er und seine Familie haben lebenslänglich bekommen, die Täter sind mittlerweile längst auf freiem Fuß. Einige blieben in der Szene, standen wegen Gewaltdelikten erneut vor dem Richter, andere haben sich zurückgezogen. Über die Sache reden will keiner von ihnen.

Der tragische Vorfall vom 21. Juni 1998 sorgte jedenfalls dafür, dass der Kampf gegen Gewalt im Rahmen von Fußballspielen und auch die länderübergreifende Zusammenarbeit der Polizei verbessert wurde. „Die Verfahren haben dafür gesorgt, dass die deutsche Hooliganszene wie nie zuvor durchleuchtet und damit auf Jahre geschwächt wurde, weil die Polizei sehr gut ermittelte und ein irres Material an Bildern beschaffte.“, sagte Harald Wostry, Nivels deutscher Anwalt. Den Preis dafür musste tragischerweise Daniel Nivel zahlen – binnen zwei Minuten an einem heißen Sommertag in einer kleinen Nebenstraße von Lens.

Marie Samstag, abseits.at

Marie Samstag